10 Jahre Angela Merkel.
Von Antje Vollmer.
Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 15.09.2015
An die weibliche Form der Amtsbezeichnung haben sich alle schnell
gewöhnt. Der Machtwechsel von Gerhard Schröder zu Angela Merkel
hatte anfangs ähnlich positive Wirkungen in der öffentlichen
Wahrnehmung wie der spätere Wechsel von George Bush zu Barack
Obama. Der erste Afroamerikaner an der Spitze der Weltmacht, die erste
Frau im Kanzleramt, dazu noch eine aus dem Osten – das war so neu
und gleichzeitig symbolisch, daß die Sympathien über das traditionelle
eigene Wählerspektrum und den nationalen Echoraum weit
hinausgingen.
Persönliches kam hinzu: In ihren Auftritten blieb Angela Merkel
bescheiden, das Fehlen aller Alphatier-Allüren, der omnipräsente
Bienenfleiß und der Verzicht auf sichtbare persönliche Eitelkeiten hatten
eine erstaunliche Wirkung: Bis heute wurde sie in allen deutschen
Leitmedien häufiger abgelichtet und von allen Leitartiklern der Republik
positiver ausgedeutet als jeder Kanzler
vor ihr. Fast könnte man sagen : Als sie nun einmal, mit manchem
glücklichen Zufall, ins Amt gekommen war, war es für sie kein Nachteil,
sondern geradezu ein Vorteil, eine Frau zu sein. Es gab ihr selbst im
Zentrum der Macht eine Art Minderheitenstatus und entwaffnete ihre
potentiellen Gegner, Konkurrenten und Kritiker.
Innenpolitisch hat Angela Merkel diesen Anfangsvorteil inzwischen zu
einer unangreifbaren Machtbasis von präsidialem Zuschnitt ausgebaut.
Sie ist als Kanzlerin alternativlos. Ihre potentiellen innerparteilichen
Konkurrenten sind ausnahmslos entmachtet oder mit anderen Posten
abgefunden. Die SPD kennt kein höheres Ziel mehr als „Mitbestimmung
in der Großen Koalition“. Und selbst die Bündnisgrünen können es gar
nicht abwarten, in einer
schwarz-grünen Koalition auf Bundesebene ihre weitestmögliche
Entfernung von den eigenen Ursprüngen zu vollenden.
Unter Angela Merkel ist Deutschland faktisch ein Land ohne Opposition
geworden. Dem kam ihr Regierungsstil entgegen , ihre Gewohnheit, in
allen anstehenden Fragen „ auf Sicht zu fahren“, also erst zu
entscheiden wenn
sich bereits abzeichnet, wohin die öffentliche Meinung in dieser oder
jener Frage tendiert. Man mag das als kluge Vorsicht interpretieren – oder
auch
als politischen oder intellektuellen Opportunismus . Das nüchterne
Ergebnis ist: Politik wird so immer weniger Gestaltung, Meinungsstreit,
Arbeit an Konzepten und Zielvorgaben, Politik wird zum Verwaltungsakt,
zum Kommentar dessen, was irgendwie sowieso geschehen muss, wenn
die öffentliche Erregung sich erst einmal eines Themas angenommen
hat.
Noch nie – so scheint es – hatte ein Kanzler, eine Kanzlerin, soviel
unbestrittene Macht - ohne dass sich erahnen lässt, was sie damit
eigentlich gestalten will. Vermutlich weiß sie es selbst nicht so genau.
Da macht selbst die Reaktion auf die aktuelle Flüchtlingskrise keine
Ausnahme. Die hohe Zustimmung zur neuen deutschen Welle der
„Willkommenskultur“ und der Jubel über die Kanzlerin als „Engel der
Flüchtlinge“ ähnelt doch sehr Obamas Nobelpreis vor der eigentlichen
Friedenstat.
All dies kann man Angela Merkel am wenigsten vorwerfen. Sie ist der
perfekte Ausdruck eines Landes, das den Anspruch auf demokratischen
Meinungsstreit, Diskutieren über Alternativen und politische
Leidenschaften nahezu aufgegeben hat. Es gibt diese anderen Visionen
nicht, kaum Bewegungen, die dafür eintreten und keine Persönlichkeiten,
die diese glaubwürdig und mit rhetorischer Brillanz vertreten.
Wahrscheinlich war die schlichte Unerfahrenheit mit solchen
Charismatikern der Grund, warum die gesamte deutsche Öffentlichkeit ,
Politik wie Medien, mit einhelliger schriller Empörung auf einen jungen,
völlig anderen Politikertyp aus Griechenland reagierte, der doch allen
Ernstes ein neues Konzept für ein anderes, nämlich solidarisches Europa
einforderte. Tsipras und Varoufakis wurden behandelt
wie Abgesandte von einem anderen Stern, wie aliens, die nicht wissen,
wie man sich im Biedermeierland bei Hofe benimmt.
Wahlen werden in der Regel innenpolitisch entschieden – und somit geht
tatsächlich niemand ein Risiko ein, der auf die Wiederwahl Angela
Merkels
auf unbegrenzte Zeit setzt. Wer aber die große Chance hat, eine ganze
historische Epoche zu prägen, muß sich an Vorbildern messen lassen,
wenn er einen Platz im Geschichtsbuch sucht.
Alle möglichen Vorbilder von historischer Bedeutung haben
ausnahmslos
ihre Aufgaben auf dem Feld der Außen- und der Friedenspolitik gesucht.
Alle sind dafür oft große Risiken eingegangen. Nur „auf Sicht zu fahren“
ist in der Außen- und Friedenspolitik garnicht möglich, wenn man Spuren
hinterlassen will. Adenauers Versöhnung mit dem früheren „Erbfeind“
Frankreich, Willy Brandts Enstspannungs- und neue Ostpolitik,
Gorbatschows Politik der Abrüstung und Perestroika, Mandelas Politik
des inneren Friedens – alle diese Konzepte wurden gegen oft erbitterte
innen- und außenpolitische Widerstände gewagt und durchgehalten und
zeigten erst später ihre Wirkung.
Die mit Festlegungen so vorsichtige Angela Merkel gewährt selten
Einblicke
in ihre innere Agenda . Zweimal gelang dennoch ein Einblick in die
Nussschale ihrer Visionen.
Das erste Mal fand statt, als sie, noch als Oppositionsführerin, auf der
Münchener Sicherheitskonferenz öffentlich bekanntgab: Wäre die CDU in
der Regierungsverantwortung gewesen, hätte sie sich zuverlässig am
Irak-Krieg beteiligt. Das zweite Mal betraf ihre Formulierung im Umgang
mit der Eurokrise: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ Beide
Aussagen hat sie
nie zurückgenommen, die zweite sogar wiederholt bekräftigt. Sie muß
sich also daran messen lassen.
Wären auch die Deutschen im Jahre 2003 in den Irakkrieg gezogen, die
Welt sähe vermutlich heute ganz anders aus. Auf jeden Fall war das Jahr
2003
die erste – wenn man die Kosovo-Krise hinzuzählt sogar die zweite
Chance, einer neokonservativen Strategie zu widersprechen, die den
Sieg des Westens im Kalten Krieg zu einer geopolitischen Initiative zu
nützen versuchte, die eine unipolare Weltordnung nach westlichem
Vorbild und unter westlicher kultureller Dominanz anstrebt - was die
Schwächung der UNO , Rußlands und der Schwellenländer zwingend zur
Folge hatte.
Angela Merkel teilt diese Sicht, kein Kanzler vor ihr hat einen so engen
Schulterschluß mit der US-Administration gesucht wie sie. Von daher ist
unter ihrer Ägide folgerichtig auch der Spielraum Europas zu einer
anderen Strategie - einer Strategie des Vorrangs realpolitischer Friedens-
Diplomatie, des geopolitischen Ausgleichs und der Kriegsvermeidung -
immer enger geworden. Warum es sinnvoll gewesen wäre, anstelle des
Strebens nach militärischer Dominanz und des Zielens auf Regime-
change in so vielen Staaten gerade im Nahen Osten auf Verständigung,
Stabilität und Deeskalation zu setzen, zeigen überdeutlich die
dramatischen aktuellen Fluchtbewegungen, der Zerfallsprozess ganzer
Staaten, sowie das Aufkommen des IS. Ein europäischer Beitrag zur
Bekämpfung dieser Fluchtursachen aber fehlt- stattdessen wird über
neue Kriegsallianzen spekuliert in dieser Pulverfass-Region , die sich
dicht am großen Krieg der Weltmächte befindet. Es gibt nicht einmal aus
Europa den Vorschlag einer Konferenz für Sicherheit , Frieden und
Stabilität im Nahen und
Mittleren Osten nach dem Vorbild des Westfälischen Friedens.
Dem wird entgegnet: Gerade Angela Merkel bemühe sich doch mit aller
Kraft und neuerdings mit ungewohnter Härte um den Zusammenhalt
Europas.
Das ist richtig, wenn denn klar wäre, was die andere Strategie dieses mit
soviel Strenge zusammengehaltenen Europas sein soll. Hier aber
entfaltet
der Satz „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ seine wahre Bedeutung.
Ein Europa, das sich vor allem als Finanzmarkt und Währungseinheit
versteht, hat seine politische Souveränität längst verloren, weil es die auf
dem Gebiet der Börsen und Finanzen schon lange nicht mehr gibt. Vor
allem aber hat es seine eigene außenpolitische Friedensrolle faktisch
aufgegeben, die der wahre Kern seiner kulturellen Identität und das
Ergebnis seiner leidvollen Geschichte ist. Dass in der entscheidenden
Nacht der schwarzen Pädagogik in der Griechenlandkrise der
griechische Regierungschef, der auf ein politisches Votum der
europäischen Staatsmänner gehofft hatte, demonstrativ unter das
Protektorat der Troika gezwungen wurde, war ein einziger
Offenbarungseid, dass die Idee Europas keinen anderen Inhalt mehr hat
als diesen.
Nach 10 Jahren der Riegenführerschaft Angela Merkels ist Europa
außenpolitisch schwächer als zu Beginn ihrer Ära. Die Eiszeit gegenüber
Rußland ist zurückgekehrt, der Einfluß auf China vermindert. Die Kräfte
des Ausgleichs, der Toleranz und der Verständigung nehmen ab, die
Vertreter eines agressiven, egoistischen Nationalismus und der
© 2015 Dr. Antje
Vollmer
Land ohne Opposition