Die „Recherche“ der Bild-Zeitung in der Sache Christian Wulff wird für so großartig gehalten, dass sie – offenbar mit den meisten Voten der Jurymitglieder – in die engste Auswahl der Preiswürdigen gelangt ist. Obwohl darüber in Berliner Journalistenkreisen seit Wochen gewispert wird, ist es niemanden eine offene Debatte wert – ein erstaunlicher Vorgang auf einem Markt, der in der Regel Mutmaßungen lange vor deren Realisierung skandalisiert. Eines fernen Tages wird vielleicht ein mutiges Rechercheteam herausfinden, wie viele Telefonate schon bei der Vorauswahl gelaufen sind – ohne Spuren auf Mail-Boxen zu hinterlassen. Tatsächlich wäre mit dem traditionsreichen Journalisten-Preis für das Massenblatt und dessen Frontmann Kai Diekmann ein Ritterschlag mit Zugang zur Artus-Runde erreicht. Seit 1989 betrachten sich Bild und der Springer-Konzern als von der Geschichte geadelt, als rechtmäßige ideologische Sieger des Kalten Krieges. Es fehlt nur irgendwie das Formelle. Kai Diekmann von der Marienschule der Ursulinen in Bielefeld hatte immer den Ehrgeiz, eine große Zeitung in der Hand zu haben. Er bekam aber nur eine Postille mit großer Auflage. Seitdem arbeitet er daran, sein Blatt aus dem Geruch der Gosse zu holen, seinen Aufstieg in die bürgerliche Welt der Notablen zu organisieren. Er ist der Erfinder einer eigenen Recherche-Abteilung im Haus, die mit dem Spiegel konkurrieren will. Er ist der Autor der Plakat-Serie, in der diverse Prominente Bild Verbesserungsvorschläge aufdrängen dürfen. Was immer sie sagen: Sie sind jetzt Bild-Werbeträger. Es tut weh zu sehen, wer da alles versammelt ist: Natürlich Alice Schwarzer, Veronica Ferres, der Dalai Lama, aber auch Hans-Dietrich Genscher – und sogar Udo Lindenberg. Die Botschaft: Früher verachteten Intellektuelle, Künstler und politische Eliten die Bild-Zeitung, heute kommt keiner daran vorbei. Wir sind Papst. Wir sind der eigentliche Machtpol, sind Königsmacher und Kanzlerstürzer. Wer uns hofiert, wird – auf Zeit – gut behandelt. Wer gegen uns ist, steht auf der Liste zur Wiedervorlage. Er und Sie sollten dann nicht mehr ruhig schlafen. Es hat sich etwas in der Architektonik der öffentlichen Meinungsbildung verschoben. Das Abstandsgebot zwischen der Darstellung eines Sachverhalts in seriösen Blättern und dem Kampagnenstil des Boulevards wird zunehmend missachtet. Heute überschlagen sich alle wie die Lemminge, wenn erst einmal der Startschuss für eine Hatz gefallen ist, auf welchen Sündenbock auch immer. Keine Streitkultur, kein Bewerten und Abwägen nirgends – nur monokulturelles Jagdfieber, getarnt als moralische Aufrüstung der Nation. Dafür war die Kampagne gegen Christian Wulff ein Musterbeispiel. Der Tiefpunkt allerdings war erreicht, als die wertvollsten unserer Printmedien – auch Süddeutsche und Frankfurter Allgemeine – auf Zuruf des vermeintlichen Opfers Kai Diekmann gleich die ganze Pressefreiheit in Deutschland für gefährdet erklärten. Was war passiert? Der bis heute nicht rechtskräftig verurteilte Christian Wulff hatte sich tölpelhaft zu verteidigen versucht, ausgerechnet mit einem Anruf beim Bild-Chef. Der dann folgenden Farce lag schlicht ein Vertrauensbruch zugrunde: Auf rätselhafte Weise erfuhr die Öffentlichkeit, was Wulf auf Diekmanns private Mail-Box gesprochen hatte, ohne dass der Bild-Chef das verhinderte. Ein Meisterstück, das Staunen macht. Die stolze Riege des deutschen Journalismus ließ sich vor diesen Karren spannen. Nicht einmal die öffentlich-rechtlichen Medien gingen auf Distanz. In allen Talkshows durfte ein Herr Blome (Bild) – getarnt als Volkes Stimme – unverblümt und kostenfrei für die neueste Ausgabe seines Blattes werben. Die Tatsache, dass dies alles auch nur die Chance hat, in die Nähe eines Henri-Nannen-Preises zu kommen, ist ein Alarmsignal. Nicht einmal Axel Springer hätte das zu träumen gewagt. Er kannte noch den Unterschied zwischen dem Boulevard und ernsthaften politischen Blättern – er hätte sonst nie in die Welt investiert. Henri Nannen, Rudolf Augstein und Marion Dönhoff aber würden sich wundern, was heute als guter Journalismus gilt. Es geht längst nicht mehr um Preise, es geht um das Abstandsgebot zwischen seriösem Journalismus und einem Pseudo-Journalismus, der zwar oberflächlich nur Entertainment, im Kern aber das populistische Aufrühren von niederen Instinkten in verunsicherten Massengesellschaften zum Zweck des Seins hat. Das ist ein Politikum, denn es verändert politische Realitäten. Der hintergründigste Kommentar zu dem Vorgang stand im Netz. Auf die Frage, wer denn nach dem Sturz von Christian Wulff der nächste Bundespräsident werden sollte, schrieb ein heller Kopf: „Kai Diekmann, dem Sieger gehört die Beute!“ Dieser fromme Wunsch muss irgendwie in Hamburg zum Maßstab geworden sein. Antje Vollmer war Bundestagsabgeordnete der Grünen und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Parlaments. > Zurück
© 2013 Dr. Antje Vollmer

Davon wird sich der Henri-

Nannen-Preis nicht erholen.