Trauerrede für Richard von Weizsäcker
11.Februar 2015 im Berliner Dom
Herr Bundespräsident, Exzellenzen, verehrte Trauergäste und vor allem
liebe Familie von Weizsäcker.
Als sich an diesem letzten Tag im Januar die Nachricht verbreitete,
Richard
von Weizsäcker sei gestorben, blieb die Welt eine Sekunde lang stehen.
Es
war, als sei die alte Bundesrepublik gestorben - oder ein Teil des alten
Europa.
Wenn es noch möglich wäre, würde an meiner Stelle jetzt Vaclav Havel
hier stehen und in Worte fassen können, was für ein Mensch Richard von
Weizsäcker war. Die beiden waren auf eine Weise befreundet, wie es unter
Politikern höchst selten ist. Sie waren sich gegenseitig Vorbild, Mentor,
Ansporn, von einem fast zärtlich zu nennenden Respekt getragen. Das
Lebensmotto von Havel: „In der Wahrheit leben“. hatte Weizsäcker so
übersetzt:
„Wir müssen die Maßstäbe bei uns allein finden...
Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können
ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.“ So
versuchten beide ihr Leben lang, den Riß zu heilen, der durch den
europäischen Kontinent und durch das eigene Volk ging.
Schon vor der samtenen Revolution hatten sie sich Briefe geschrieben.
Kaum drei Monate im Amt lud der tschechoslowakische Präsident den
deutschen Bundespräsidenten zu einem Staatsbesuch in Prag ein. Zu
einem Datum von hoher Symbolik, dem 15. März, 51 Jahre nach Hitlers
demütigender Besetzung des Hradschin, stieg der Bürgerpräsident
Weizsäcker zu Fuß zum Bürgerpräsidenten Havel auf die Prager Burg
hinauf, als Gast bei einem Freund. Das war nicht nur europäische
Versöhnungspolitik - Es war auch
die Heilung einer ganz persönlichen Wunde.
Die Rede vom 8.Mai 1985 hatte eine ähnliche Wirkung wie der Kniefall von
Willy Brandt in Warschau. Beide Politiker nahmen so ein wenig den
traumatisierten europäischen Nachbarn die Angst vor den Deutschen und
sie erlaubten uns, den damals Jüngeren, ganz vorsichtig wieder
einzuwandern in das eigene Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde. Es
war wie eine Eisschmelze - es konnte wieder Vertrauen investiert werden.
Was war denn das eigentliche Geheimnis dieser Rede? Sie hatte kein
Pathos,
schlichte Sätze, es fand keine Belehrung statt. Wochenlang hatte Richard
von Weizsäcker die unterschiedlichsten Menschen eingeladen – die
Botschafter
der Nachbarländer, Politiker aller Fraktionen, junge und alte, Vertriebene
und
68er – und allen die Frage gestellt: „Was bedeutet Ihnen der 8.Mai ?“
Damals habe ich ihn kennengelernt. Er war ein Politiker anderer Art.
Er war nicht allzeit auf Sendung, er war auf Empfang. Der Politiker Richard
von Weizsäcker war ein Zuhörer von großer Intensität, und ohne jedes
Vorurteil. Deswegen konnte er den fast magischen Punkt treffen, an dem
alle sich den Bleilasten der Vergangenheit stellen konnten, um doch auf
eine europäische Zukunft von freien Menschen in einem innerlich und
äußerlich freien Kontinent zuzugehen.
4 Jahre später, an jenem glücklichen Juniabend, als Michail Gorbatschow
in Bonn zu Besuch war, und die Ahnung am europäischen Horizont
aufleuchtete: „Der Kalte Krieg geht wirklich zu Ende“, da standen Willy
Brandt und Richard von Weizsäcker eine Weile allein abseits beieinander.
Es fielen bescheidene Sätze wie „Man hat sich bemüht“ oder „Manches ist
uns doch gelungen in unserem Leben“ – aber mir erschienen sie wie zwei
vollständig freie Menschen.
Solche Politiker gibt es heute nicht mehr, sie kamen aus finsteren, harten
und blutigen Zeiten und verbanden doch ihre Melancholie gelegentlich mit
einer
fast mozarthaften Heiterkeit des Seins.
Die Mittwochsgesellschaft, ein Kreis von Freunden, traf sich seit 1996 bei
ihm, um über das Zusammenwachsen der Republik und womöglich des
ganzen Kontinents nachzudenken. Bedeutende Staatsmänner, Künstler
und Intellektuelle waren zu Gast, es wurde völlig offen geredet und
manchmal
auch gestritten mit Helmut und Egon, nie drang ein Wort nach außen. Am
Ende fasste er das Gehörte immer auf seine unverwechselbare Weise
zusammen - es war genau die Essenz des Gesagten und doch irgendwie
verwandelt. Er war gänzlich unerschrocken, die Erkenntnis da zu suchen,
wo der Riss am schmerzhaftesten ist. Es ist kein Zufall, daß der letzte
eingeladene Gast zu seinen Lebzeiten der russische Botschafter Grinin
war. Dies einzige
Mal in fast zwanzig Jahren mußte der Stuhl unseres Gastgebers leer
bleiben,
weil seine Kraft erschöpft war. Es liegt jetzt an u n s, ob wir eine Antwort
auf diese essentielle Zukunftsfrage Europas finden.
Ein letztes Bild:
Am 20. Juli des letzten Jahres saß er wie jedes Jahr als erster allein an
seinem Platz in der gleißenden Hitze des Bendlerblocks. Diesen Termin
hat er nie versäumt. Er kannte so viele der Hingerichteten persönlich:
Stauffenberg, Schulenburg, Treschkow, Kleist, Klausing. Über sie und die
Zeit mit ihnen zu sprechen, fiel ihm sehr schwer. Sein Vater, der Diplomat,
hatte den Krieg 1938 verhindern wollen und war an dieser seiner Illusion
gescheitert. Sein Bruder Heinrich war am zweiten Kriegstag dicht neben
ihm gefallen. Sein engster Freund, Axel von dem Bussche, hatte sich zum
Attentat auf Hitler bereiterklärt und wurde durch einen dieser unfassbaren
Zufälle gehindert, es auszuführen. Millionen Menschen in den Lagern und
an allen Kriegsfronten hätten gerettet werden können. Im Nachdenken
über dieses Scheitern und was daraus zu lernen sei, lagen die
eigentlichen Wurzeln seiner Politik. Manchmal hatte ich den Eindruck, die
toten Freunde begleiteten ihn ein Leben lang - und er hörte ihnen zu.
Wir verbeugen uns vor dem Freund, der uns gezeigt hat, wie wahrhaftig
und weltoffen man trotz alledem auch als Deutscher leben kann. Wir
verbeugen uns vor der Traurigkeit seiner Kinder Robert, Beatrice und Fritz
-
und vor seiner großen lebenslangen Liebe, Marianne. Sie trafen sich, als
der Krieg und die übermäßige Kraftanstrengung der Verteidigung des
Vaters vorbei
waren und blieben über 64 Jahre in unverbrüchlicher Treue zusammen.
Nur einmal, bei seinem Abschied als Präsident, hat er öffentlich gesagt,
sie, Marianne, habe noch immer dieses kecke, leicht verschmitzte,
© 2015 Dr. Antje
Vollmer