Zivile Opfer helfen den Terroristen (Interview, GA 15.10.2001)
Datum: 15.10.2001
Quelle: General - Anzeiger
"Zivile Opfer helfen den Terroristen"
GA-INTERVIEW Antje Vollmer über "bedingungslose" Solidarität sowie die
Grünen und den Pazifismus
BERLIN. Militärische Aktionen bei der Bekämpfung von Terroristen hält Antje
Vollmer für kontraproduktiv. Mit der Grünen-Politikerin sprach Thomas Wittke.
GA: Was verbinden Sie mit dem Begriff "bedingungslose" Solidarität?
VOLLMER: Für mich ist Solidarität ein Qualitätsbegriff und kein
Quantitätsbegriff. Meine Solidarität zu Freunden heißt, dass ich mich
mit ihnen auch in eine Diskussion einlasse über die richtige Form der
Unterstützung, die kann auch Differenzen über Mittel und Wege
einschließen.
GA: Glauben Sie, dass die bisherigen unterstützenden Erklärungen
Ihrer Partei für die militärische Reaktion belastbar sind?
VOLLMER: Es gibt im Moment eine unglaubliche Debatte in der
deutschen Bevölkerung. Die muss in die politischen Parteien und die
Regierung hineinreichen. Ich empfinde im Moment diese Debatte
insgesamt als noch nicht offen genug.
GA: Gibt es die alte Konfrontation Friedensbewegung gegen
Gewaltunterstützer?
VOLLMER: In seiner Regierungserklärung hat Gerhard Schröder
gesagt, er brauche auch den Rat derer, die zweifeln und Einwände
haben. Was ich aber mit Beunruhigung sehe, ist eine gewisse
Gleichschaltung in der Wortwahl. Es gibt einen gewissen Druck,
immer bestimmte Formeln zu nutzen.
GA: Beispiele?
VOLLMER: Eben die "bedingungslose" Solidarität, dass es ein "Krieg"
sei, dass "nichts mehr ist, wie es war".
GA: Hat der Kanzler die militärische Verantwortung Deutschlands in
seiner Regierungserklärung überbetont?
VOLLMER: Er hat allgemein formuliert, dass auf Deutschland
insgesamt eine besondere Verantwortung zukomme. Ich teile die
Überzeugung, dass diese Rolle zweifelsfrei fest im westlichen
Bündnis eingebunden ist. Trotzdem denke ich, dass es ein großes
weltweites Interesse daran gibt, dass auch kulturelle und politische
Unterschiede zu dem amerikanischen Weg deutlich artikuliert werden
dürfen.
GA: Während des Golfkrieges hat der Begriff Kollateralschäden die
Grünen ziemlich umgetrieben. Ist Ihre Partei auf diese Debatte heute
besser vorbereitet?
VOLLMER: Wir sind insgesamt durch den Golfkrieg, den
Bosnienkrieg, den Kosovo besser vorbereitet auf das, was wir
zunächst nicht zu sehen kriegen. Ich habe von Anfang an gesagt, dass
ich militärische Aktionen im Zusammenhang mit der Bekämpfung von
Terroristen für erfolglos und kontraproduktiv halte. Zivile Opfer
treiben den Terroristen nur Zustimmung zu.
GA: Sind die Grünen noch eine pazifistische Partei?
VOLLMER: Wir sind die Partei des politischen Pazifismus. Das heißt
für mich, dass wir nicht moralisch sagen, das Militär als solches ist
unerlaubt und böse. Sondern dass wir über Strategien nachdenken, in
denen es auch militärische Komponenten braucht. Ziel dieses
Ansatzes ist, dass es gar nicht erst zu offenen militärischen Aktionen
kommen kann.
GA: Im Fall Afghanistan bedeutet das?
VOLLMER: Die Schaffung von Schutzzonen, damit endlich die
Zivilbevölkerung weder zur Geisel der Terroristen noch zur Geisel der
Gegenschläge wird. In diesen Zonen brauchen wir einen konkreten
und umfassenden militärischen Schutz, damit, wie in Mazedonien, mit
internationalen Militärs die Entwaffnung der Taliban vorgenommen
und auf Dauer garantiert wird. Militärpräsenz kann auch die
Bevölkerung schützen. Militär kann zur Konfliktverhinderung
beitragen. Ein Bombenkrieg aber passt nicht in eine pazifistische
Strategie.
GA: Die jetzige innere Situation Deutschlands wird unter anderem
verglichen mit jenen Tagen des Deutschen Herbstes 1977 während der
Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer. Wie weit kann
der Vergleich gehen?
VOLLMER: Es gab auch damals in der Regierung eine
Reformkoalition, die es fast als ungerecht und tragisch empfunden
hat, dass ausgerechnet sie in eine solche Situation kommt. Die unter
dem öffentlichen Druck gefunden hat, sie müsse nun erst recht
beweisen, dass sie Gesetz und Ordnung hochzuhalten versteht und
damit überreagiert hat. Das ist eine der wichtigsten Lehren: Das
Überreagieren darf sich nicht wiederholen. Ob wir wirklich anders
vorgehen, hängt genau von dem großen Dialog mit der Gesellschaft
ab. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir müssten den Terrorismus für die
Gesellschaft und nicht mir ihr zusammen bekämpfen.
GA: Ist bei der Debatte um die Ursache des Terrors die Gefahr der
politischen Instrumentalisierbarkeit gegeben?
VOLLMER: Im Moment sehe ich die Gefahr, dass unter den ständig
wiederholten Formeln - es geht nicht gegen den Islam und wir wollen
auch keinen Kampf der Zivilisationen -stimmungsmäßig trotzdem
genau so ein Affront gegen Muslime entsteht. Es gibt eine gewisse
Grundhysterisierung.
GA: Ihre Einschätzung der Rolle der Medien während des Konflikts?
VOLLMER: Insgesamt sehe ich, dass sich die politische Klasse,
Politiker undMedien gleichzeitig in eine innere Steigerung der
mentalen und rhetorischenDramatisierung hereinbegeben haben, die
die Bevölkerung so gar nicht von ihnenverlangt hat.
GA: Eine Frage an die Vizepräsidentin des Bundestags: Wie beurteilen
Sie die Qualität der Parlamentsdebatten, die sich mit dem Terror
beschäftigt haben?
VOLLMER: Ich erinnere gern an den österreichischen Schriftsteller
Karl Kraus. Dessen hohe Kunst bestand genau darin, rhetorische
Floskeln und klirrende Töne ohne Sinn, das Entstehen von .Gruppen
geschlossener Meinungen aufzuspießen. So einer fehlt uns sehr
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Vollmer