Erschienen in der FAZ am 11.05.1999
Der Tag danach
Europa, das Kosovo und der Krieg / Von Dr. Antje
Vollmer
Die Nato wird den Krieg gewinnen - weil die Nato einen Krieg gegen
Serbien nicht verlieren kann, aus vielen Gründen. Was das wirklich
bedeutet, wird man erst am Tag danach wissen. Vielleicht ist es ja
vermessen, heute schon nach dem Tag danach zu fragen. Es ist auch
nicht einfach, weil immer deutlicher wird, daß es bei Kriegsausbruch
bei keinem der Beteiligten eine Vorplanung für den Tag danach
gegeben hat. Auf merkwürdige Weise entspricht das der Tatsache, daß
es auch das Bewußtsein von dem Tag davor, dem Tag vor Ausbruch
des Krieges, nicht gegeben hat. Der Tag vor Ausbruch des Krieges war
der letzte Tag vor Rambouillet. In Rambouillet aber wurde nicht der
Krieg vorbereitet und in all seinen Konsequenzen vorbedacht. In
Rambouillet wurde - nicht zuletzt dank der deutschen Außenpolitik - bis
zur letzten Minute und bis zum Anhalten der Uhren auf den Frieden hin
verhandelt: Der Krieg war nur eine virtuelle Realität.
Seit wir das beobachtet und miterlebt haben, wissen wir wieder, was
Gesetzmäßigkeiten und der Verlust von Entscheidungsfreiheit
bedeuten. Der Sinn von Politik ist Freiheit, und der Verlust von
Entscheidungsfreiheit ist gleichbedeutend mit dem Verlust von Politik.
Seitdem suchen die führenden Nato-Politiker, diese verlorene Freiheit
wiederzugewinnen. Die Frage nach dem Tag danach gehört dazu.
Die Frage nach dem Tag danach ist etwas anderes als die Definition von
angestrebten Kriegszielen- etwa "Verhinderung einer humanitären
Katastrophe.” Diese Frage sucht vielmehr nach dem
handlungsanweisenden Bild im Kopf der Akteure. Wie soll die Welt
nach dem Ende dieses Krieges aussehen? Welche politische Ordnung
soll auf dem Balkan herrschen? Wie gestaltet sich sein Verhältnis zum
übrigen Europa? Welche Probleme sind gelöst, welche neuen sind
hinzugekommen? Sind die Völker des Balkans am Tag danach
friedlicher, überlebensfähiger oder wenigstens kriegsmüder geworden?
Hat die Zivilisation standgehalten? Hat Europa seine Kultur und Werte
glaubwürdig verteidigt? Sind bewährte Allianzen gefestigt worden oder
sind neue Konkurrenzen im Weltmaßstab entstanden, die den Keim zu
neuen Konfrontationen enthalten? Wie die balkanische Welt am Tag
danach aussieht, wird letztendlich auch über die Frage der Legitimität
dieses Krieges entscheiden, des letzten und äußersten Mittels der
Politik.
Es spricht viel für die Vorhersage, daß dieser Krieg am Ende "zwei
Sieger” haben werde: die Nato und Serbien. In keinem der beteiligten
Nato-Staaten gibt es massive antiserbische Ressentiments. Je weniger
kriegsgeneigt die europäischen Bevölkerungen sind, umso mehr
werden sie zu einer schnellen und großzügigen Beseitigung der
ökonomischen Kriegsfolgen bereit sein. Der "Marshall-Plan für
Serbien” ist bereits als Herzstück der Balkan-Stabilisierung
angekündigt und wird von der deutschen Außenpolitik vorbereitet,
vermutlich schon für die große Balkan-Konferenz Ende Mai.
Viel schwieriger wird die Frage zu beantworten sein, wie und in welcher
Form es nach allen Exzessen und rassistischen Greueltaten noch
multiethnische Siedlungsgebiete auf jugoslawischen Territorium geben
kann und wird, Bosnien ist kein ermutigendes Beispiel. Hier bestätigt
sich noch einmal, daß - verglichen mit regulären Kriegen von regulären
Armeen - Bürgerkriege, Vertreibungen und Brutalitäten gegenüber
Zivilbevölkerungen zehnmal mehr Zeit benötigen, um im Bewußtsein
der Betroffenen abzuklingen und ein neues Zusammenleben wieder
möglich zu machen.
Gegen diese Erfahrung wird auch eine internationale militärische
Schutztruppe für den Kosovo - egal unter welcher Führung sie dann
zustande käme - nichts ausrichten können. Zumal diese damit rechnen
müßte, daß sowohl bei der UCK als auch bei den serbischen
Paramilitärs die Bereitschaft zu einer Verlängerung des Bürgerkriegs
als Partisanenkampf längst nicht gebrochen ist. Ist eine internationale
Streitmacht vorbereitet und in der Lage, mit einer solchen Situation
fertig zu werden? Deutsche Soldaten sind es jedenfalls nicht. Eine
Teilung des Kosovo in einen albanischen und einen serbischen Teil
bedeutete für die internationale Gemeinschaft, sich hier militärisch für
die Dauer einer Generation engagieren zu müssen. Die Perspektive
bleibt unklar. Eine Loslösung des Kosovo von der jugoslawischen
Republik und früher oder später ein Anschluß an Albanien stieße einen
hochdramatischen Prozeß an, dessen Verlauf von außen nicht mehr zu
steuern wäre. Dabei könnten vielleicht Kroatien und Albanien als
weitere Mit-Sieger vom Feld gehen, auf jeden Fall aber würde Bosnien
und vermutlich auch Mazedonien zerschlagen, das ungewisse
Schicksal Montenegros nicht eingerechnet.
Nimmt man all diese unerfreulichen und unsicheren Perspektiven ernst
und berechnet man die Kosten und Folgekosten - die katastrophale
Sicherheitslage ebenso wie die ins Astronomische gehenden
materiellen Kosten -, wird man vielleicht bereit sein, einen Gedanken zu
denken, der auf den ersten Blick unrealistisch erscheint: All diese
explodierenden Klein- und Teilstaaten müssen in einer größeren Einheit
aufgehoben werden. Diese Einheit kann - nach allem, was vorgefallen
ist - nie wieder das Jugoslawien Titos sein. Diese größere Einheit, in
der die balkanischen Teilstaaten aufzuheben sind, kann nur Europa
sein. Die Europäische Union muß sich, ausgerechnet für diese
unruhigen, armen und krisengeschüttelten Teilstaaten des Balkans,
früher öffnen, als je vorgesehen. Der Gedanke sollte jedenfalls
zugelassen werden: Die Folgen des Kosovo-Krieges werden entweder
eine nicht endende Folge von Nachfolgekriegen und Nachfolgekrisen
sein, oder der Kosovo-Krieg wird zum Gründungsmoment - um nicht zu
sagen zur Gründungsgewalt und zum Gründungsmythos - einer
erheblich beschleunigten europäischen Einigung.
Die allerdings, und das ist die zweite Konsequenz, muß ein
gemeinsames europäisches Sicherheitssystem einschließen. Es wird -
auch in Anbetracht der zentralen Rolle, die Rußland im Verlauf der
Friedensbemühungen im Krieg mit Serbien eingenommen hat - nicht
gegen, sondern nur mit Rußland entwickelt werden können. So muß
einer der ewig fortgeschleppten Geburtsfehler der europäischen
Einigung ebenfalls schneller behoben werden, als bisher geplant war.
So bekäme das zweifellos hochriskante Unternehmen des Nato-Krieges
im Kosovo eine Bedeutung, die es von Anfang an sicher nicht gehabt
hat und auch gar nicht haben konnte. Es würde selbst zum Motor einer
forcierten europäischen Einigung. Ein hoher Preis - aber ein lohnendes
Ziel!
Diese Interpretation der Ereignisse offenzuhalten, heißt gleichzeitig, zu
ahnen, auf wie viele Widerstände ein solcher Prozeß träfe, und zwar
innerhalb wie außerhalb Europas. Diese Einwände wären nicht nur
machtpolitischer Art, sondern sie entsprächen demokratischem
Urverständnis und auch staatspolitischer Vernunft. Kann man vor-,
halb- und undemokratischen Gesellschaften eine Assoziierung an die
EU innerhalb eines überschaubaren Zeitraums überhaupt anbieten?
Dieser Einspruch ist berechtigt. Und trotzdem: Die Kühnheit des
Marshall-Planes bestand in Wahrheit auch nicht in seinen finanziellen
Versprechen, sondern genau darin, einer postfaschistischen und
vordemokratischen Bevölkerung die Wiederaufnahme im Kreis der
westlichen Demokratien anzubieten. Ausgeschlossen von diesem
Angebot sind nur die Diktatoren in Serbien und Kriegsverbrecher. Aber
es gibt Demokraten in Serbien und in allen anderen Staaten. Ein
solches Angebot, gebunden an bestimmte demokratische und
verfassungsmäßige Grundbedingungen, könnte gerade diese wirksam
unterstützen und somit zur Isolierung des Diktators beitragen.
Unübersehbar ist ebenfalls, daß eine solche Beschleunigung für den
bisherigen Prozeß der europäischen Einigung enorme Risiken und
selbst gigantische Kosten brächte. Ein Assoziierungsangebot an diese
Länder würde alle bisherigen EU-Regeln sprengen und die soeben
verabschiedete Agenda 2000 zur Makulatur machen. Eine viel größere
Reformanstrengung wäre nötig und auch die würde den EU-Haushalt
noch völlig überfordern. Doch man täusche sich nicht. Auch der bisher
anvisierte Marshall-Plan wird teuer und leidet unter dem Makel, daß ihm
bisher jede Perspektive einer politischen Ordnung fehlt. Von der
Fortsetzung des Krieges auf unbekannte Zeit ganz zu schweigen. Und
ist es ganz illusorisch, die Völker Europas, die nichts so sehr fürchten
wie die Rückkehr des Krieges, noch einmal für eine ganz große
europäische Perspektive zu motivieren und zu begeistern? Die
entscheidende Frage an die Realitätstüchtigkeit dieses Gedankens ist,
ob er geeignet ist, die Gewalt in diesem Raum dauerhaft einzudämmen
und die ethnischen Konflikte und Ressentiments durch eine
optimistischere Perspektive zu besänftigen.
Alle europäischen Katastrophen der letzten zwei Jahrhunderte hatten
ihren Ursprung im ethnischen Ressentiment und seiner politisierten
Form, dem nationalistischen Größen- und Expansionswahn. Es ist
sinnlos, am Beginn eines neuen Jahrtausends noch einmal Kraft, Zeit,
Geld und Menschenleben für eine Wiederholung dieser gefährlichen
kollektiven Rauschzustände und für deren Eindämmung zu vergeuden.
Es ist übrigens nicht einmal unter dem Gesichtspunkt des
Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Wahrung von
Menschenrechten sinnvoll, sich heute - zehn Jahre nach dem
Sonderfall des Zerfalls der Sowjetunion - mitten in Europa noch einmal
auf den schwierigen und in den meisten Fällen unmöglichen Prozeß der
Neufestlegung und der Verschiebung von nationalen Grenzen
einzulassen. Es hat sich ja inzwischen auch bei den damals politisch
Verantwortlichen in Deutschland herumgesprochen, daß es ein
schwerwiegender Fehler gewesen ist, an der Zerstückelung
Jugoslawiens in den Jahren 1989 bis 1992 mitgewirkt zu haben. Das
gehört zu unserer Mitverantwortung an den Ursachen des jetzigen
Krieges. Wir können und dürfen diesen Fehler nicht ständig fortsetzen.
Der Satz, daß Grenzen - um des Friedens willen - in Europa nicht mehr
verschoben werden dürfen, gehört zu denen, die durch die bitteren
Erfahrungen der letzten Jahre neu und bewußt wieder ins Recht gesetzt
werden müssen. Es darf, international akzeptiert, nur noch die
Möglichkeit geben, Grenzen friedlich und mit Einverständnis beider
Seiten aufzuheben. Wenn das aber klar ist, muß die Frage beantwortet
werden, wie und durch wen Minderheiten in Zukunft dauerhaft so
geschützt werden können, daß kollektive Menschenrechte gewahrt,
Pogrome, ethnische Säuberungen und Vertreibungen wirksam
unterbunden werden können. Es gibt bis heute keine rechtsförmige
Instanz, keinen internationalen Gerichtshof, an den sich ganze
Volksgruppen und ethnische Minderheiten wenden könnten, wenn ihre
kollektiven Menschenrechte bedroht sind. Sie können sich zwar an die
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen oder auch
vermittelt an den Sicherheitsrat wenden; in beiden wird aber nach
politischen Vorgaben, nach Machtinteressen, nicht aber in Form von
Rechtsprechung entschieden. Was deswegen dringend benötigt wird,
ist ein internationaler Gerichtshof für die Rechte der Minderheiten.
Was könnte ein solcher Gerichtshof leisten, wie könnte er wirksam
agieren? Er wird die von den Minderheiten vorgetragenen Klagen
anhören und die betroffenen Nationalstaaten zu Stellungnahmen
auffordern. Sodann wird er - gemessen an international anerkannten
demokratischen Rechtsstandards - eine Beweisaufnahme vornehmen
und gegebenenfalls den verklagten Nationalstaat nach bestimmten
Maßgaben zu einem wirksamen Schutz seiner Minderheiten auffordern
beziehungsweise die Einführung bestimmter Rechte für die
Minderheiten von ihm verlangen.
Die Kammer wird ihrerseits prüfen, ob auch die diskriminierte oder
bedrohte Minderheit selbst ihren Kampf für mehr demokratische Rechte
gewaltfrei verfolgt. Nur wenn dies der Fall ist - im Kosovo war dies
mehr als ein Jahrzehnt so, denn Präsident Rugova verfolgte
konsequent den Weg Gandhis -, besteht ein Anspruch auf den Schutz
der Völkergemeinschaft. In besonders gravierenden Fällen der
gewaltsamen Unterdrückung von ethnischen Minderheiten, die selbst
gewaltfrei agieren, kann die Kammer dann ihrerseits den Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen auffordern, Kriseninterventionskräfte in das
bestimmte Gebiet zu entsenden.
Ob der Sicherheitsrat in seiner jetzigen Zusammensetzung eine solche
Aufforderung auch politisch umsetzen würde, ist natürlich nicht
ausgemacht. Tut er es nicht, indem einzelne Mitglieder des
Sicherheitsrates wie so oft in der Vergangenheit ihr Veto einlegen,
käme dieses Mitglied allerdings unter internationalen
Legitimationsdruck. Es könnte nicht länger damit argumentieren, es
vertrete eben politisch andere Interessen als die Mehrheit des
Sicherheitsrates. Es verstieße jetzt selbst gegen den Spruch einer
internationalen Rechtsinstanz.
Es besteht jedenfalls die Chance, daß eine solche internationale Instanz
erheblich zur Rechtssicherheit in einer Welt beitrüge, die längst mehr
Bürgerkriege kennt als reguläre Kriege zwischen einzelnen
Nationalstaaten. Gleichzeitig bekämen die Ohnmacht und die zur
Gewalt treibende Verfolgungserfahrung ethnischer Minderheiten eine
Adresse, wo sie wirksam ihr Recht suchen können und dabei selbst auf
den gewaltfreien Weg verwiesen werden.
Im äußersten Fall wird dieses Recht verfolgter ethnischer Minderheiten
nur zu verteidigen sein, wenn, nach Aufforderung des Internationalen
Gerichtshofes für Minderheitenfragen und nach Zustimmung des
Sicherheitsrates, die internationale Gemeinschaft die bedrohte und
gefährdete Minderheit selbst unter den militärischen Schutz einer
internationalen Streitmacht stellt, dann allerdings auch ohne
Zustimmung des verklagten Nationalstaats, also in Form einer
Krisenintervention.
Gerade die Tragödien in Bosnien und im Kosovo haben die
Notwendigkeit erwiesen, ein solches Konzept eines Internationalen
Gerichtshofes für Minderheitenfragen auf der einen, der Errichtung von
militärisch abgesicherten Schutzzonen für bedrohte Zivilbevölkerungen
auf der anderen Seite zu entwickeln. An Bosnien konnte man - und
konnten insbesondere die Grünen und die traditionellen Pazifisten -
lernen, daß Schutzzonen keine Schutzzonen sind, wenn sie nicht mit
massiver Bewaffnung dafür Sorge tragen, daß sie nicht von außen
angegriffen und überrannt werden können. Man kann unbewaffnete
Blauhelm-Soldaten nicht dazu verurteilen, hilflos erleben zu müssen,
wie Waffen und bewaffnete Kämpfer in die Schutzzone einsickern. Das
eben gehört zur notwendigen Weiterentwicklung realitätstauglicher
pazifistischer Strategien: Sie müssen aufhören, das Militär an und für
sich zu dämonisieren. Sie müssen vielmehr Konzepte mitentwickeln,
das Gewaltmonopol der UN zu stärken und in konkreten Situationen
dafür zu sorgen, daß die drohende Gewalt im Keim erstickt werden
kann. In Bosnien hätten die Schutzzonen sichtbar und massiv
bewaffnete Kräfte gebraucht - eben damit kein Schuß fallen mußte und
damit die Menschenrechte der Zivilbevölkerung wirksam geschützt
werden konnten. Allerdings: Im Inneren muß eine Schutzzone zwingend
ein waffenfreier Raum sein. Sie muß die Zivilbevölkerung wirksam von
denen trennen, die weiter Gewalt ausüben wollen. Wer selbst zur Waffe
greift, hat sein Recht auf Schutz verwirkt. Das eben unterscheidet das
Konzept von Schutzzonen von einem Protektorat durch eine
Besatzungsmacht.
Genau eine solche Unterstützung hat den Kosovo-Albanern seit der
willkürlichen Aufhebung des Autonomie-Status durch das Milosevic-
Regime im Jahre 1989 gefehlt. Erst die permanente Ohnmacht und die
zermürbende Erfolglosigkeit des Rugova-Kurses hat die UCK entstehen
© 2015 Dr. Antje
Vollmer