"Diese Kriegsstrategie ist ein Rausch"
F: Frau Vollmer, haben die Grünen jeden Bezug zur Realität verloren?
A: Im Gegenteil. In Bezug auf Afghanistan sind die Grünen derzeit die
einzigen Realisten. Ich rede nicht von der Bundestagsfraktion ,
sondern von der Partei. Wir sind mit dieser Haltung innerhalb des
etablierten Parteienspektrums allein und stehen spürbar gegen den
Medientrend, aber die Debatte beginnt überall und wird stärker
werden.
F: Wie bitte? Die Grünen haben sich doch in Göttingen gerade von der
Realpolitik verabschiedet.
A: Göttingen war tatsächlich eine Zäsur in der Geschichte der Grünen.
Der Parteitag markiert das Ende der Ära Fischer/Trittin und einen
Neuanfang. Auch das System "Burgfrieden ohne Debatte" ist in
Göttingen beendet worden. Dort ist eine neue Gruppe von Grünen-
Politikern aufgetreten. Sie zeigen andere Gesichter, andere
Leidenschaften. Sie sprechen eine neue Sprache und sind sehr
entschlossen, ihre Partei zu verändern.
F: Die meisten Beobachter beschreiben das Gegenteil: eine Rückkehr
zu fundamentalistischen Überzeugungen der Zeit vor Joschka Fischer.
A: Das ist grüne Vorgeschichte und vorbei. Es gibt keine
Wiederauflage des Fundamentalismus. Die neuen Grünen haben eine
absolut realistische Sicht der Situation in Afghanistan. Und ihre
Botschaft lautet: Die Grünen sind keine Ein-Generationen-Partei.
F: Dann nehmen wir sie ernst: Der Parteitagsbeschluss lehnt den
Einsatz deutscher Aufklärungs-Tornados ab, steht aber zur
Internationalen Stabilisierungstruppe für Afghanistan (Isaf). Wäre ein
völliger Abzug der Isaf nicht konsequenter?
A: Der Beschluss des Parteitags symbolisiert tatsächlich, dass die
Grünen auf dem Weg sind, die gesamte deutsche Afghanistan-Politik
infrage zu stellen.
F: Und zu welchem Schluss kommen Sie?
A: Es ist eine brutale und ernüchternde Bilanz: Die afghanische
Regierung, die weitgehend aus dem Exil besetzt war, hat nach sechs
Jahren im Amt nur noch wenige Bastionen im Land. Der Prozess der
Aussöhnung in der Nationalversammlung "Loya Dschirga" unter den
Stämmen funktioniert nicht. Die Korruption und die Drogenkriminalität
haben in einem gigantischen Maße zugenommen. Wir haben heute
vier Mal so viele Soldaten im Land als am Anfang, der Krieg eskaliert
aber, wir zählen zehn Mal so viele Anschläge wie noch vor Jahren. Die
Taliban gewinnen an Zulauf. Es gibt im ganzen Land einen Aufstand,
der nicht nur von außen hineingetragen wird. Auch Afghanen stützen
ihn.
F: Verteidigt der Westen nicht auch Menschenrechte der Afghanen?
A: Ja, es war ein idealistischer Ansatz, wonach wir diesen Krieg für
Menschenrechte, Frauenrechte und Demokratie kämpfen. Aber es war
unmöglich, ihn von dem "Krieg gegen den Terror" zu trennen. Viele
Afghanen leiden unter Krieg, Korruption, Unsicherheit, Armut und
wollen die Besatzer wieder los werden. 2001, als Gerhard Schröder
und Joschka Fischer mit der Drohung des Koalitionsbruches die
Zustimmung der Grünen erpreßten, versprachen sie dem ganzen
Parlament, es werde eine wasserdichte Trennung des
Antiterrorkampfes "Operation Enduring Freedom" (OEF) von dem
"guten Krieg" des Wiederaufbaus und der Stabilisierung des Landes
geben. . Es ist aber kein Blauhelmeinsatz und von dem "bösen Krieg"
nicht trennbar. Die Führungsstäbe und viele Aktionen von Isaf und
OEF sind verkoppelt.
F: Hat Sie das überrascht? Der Bundestag hat doch dem Einsatz
deutscher Elitesoldaten im Rahmen des Antiterrokampfes OEF in
Afghanistan ausdrücklich zugestimmt.
A: Das zielt genau in die Phase, wo rot-grün nach dem Nein zum Irak-
Krieg unbedingt wieder mit den US-Konzepten kooperieren wollte. Die
Kraft reichte nicht, zwei Konzepte vollständig gegeneinander
abzugrenzen. Damit begann faktisch die Irakisierung Afghanistans.
Damals wurde nur mit dem Einsatz am Horn von Afrika geworben. Die
Grenze zur offenen Vermischung der beiden Einsätze wurde erst
durch die Entsendung deutscher Aufklärungs-Tornados
überschritten.
Keiner weiß heute, wie wir aus dem Krieg wieder herauskommen und
ob er je zu gewinnen ist. Demokratische Politik muß ihre Alternative
mitdenken. Wir müssen anfangen, den Gedanken zuzulassen, dass wir
uns aus Afghanistan zurückziehen müssen.
F: Unter dem Gesichtspunkt der Nato-Bündnissolidarität würde das
den Deutschen wohl schlecht bekommen.
A: Einspruch. Dieselbe Debatte wird in den Nato-Ländern Kanada,
Italien und Holland längst geführt. Andere Länder werden folgen, da
gibt es dieselben Zweifel am Erfolg. Der kanadische
Oppositionsführer Steven Dayon ist zu dem Schluss gekommen, dass
der Westen keinen Krieg gegen den Willen der Afghanen gewinnen
kann.
F: Aber es gibt doch sehr gute Gründe, den Afghanen zu helfen.
A: Möglicherweise sind gerade diese hehren Ziele das Problem, das
uns hindert. In der neo-konservativen Regierung Bush gab es neben
wirtschafts- und weltstrategischen Interessen auch einen neo-
revolutionäres Motiv, wonach der Westen nach dem Zusammenbruch
des Kommunismus die Demokratie auch blitzschnell in die Länder des
islamischen Bogens exportieren könne. Für viele frühere Linke war
dieser neo-revolutionäre Gestus verführerisch. Heute sehen wir: Jede
Art von missionarisch aufgeladener Kriegsstrategie ist ein Rausch,
der viele Ko-Alkoholiker findet, aber die Wirklichkeit ausblendet.
F: Noch mal: Verhindert der Westen nicht den Rückfall Afghanistans in
die Barbarei?
A: Dieses Motiv zielt nur auf die innenpolitische Debatte hier bei uns.
Das Afghanistan der 70er Jahre, das es vor allen Weltbeglückern gab,
war nicht barbarisch.
F: Aber auch Afghanen argumentieren so. Außenminister Rangin
Dadfar Spanta, lange Mitglied der Grünen, droht mit Parteiaustritt. Die
Grünen seien "unsolidarisch und naiv", sagt er. Mehr als 80 Prozent
der Afghanen befürworteten die Präsenz der Hilfstruppen.
A: Wer tätigte die Umfrage, wo und mit welchen Methoden? Vielleicht
gibt es in Kabul noch eine Mehrheit für Isaf. Die Leute in der Provinz
unterscheiden nicht zwischen den "guten" und den "bösen" Soldaten,
deren Flugzeuge Bomben schmeißen. Wir sind Teil des Krieges gegen
den Terror geworden. Das möchte ja noch angehen, wenn es
wenigsten Erfolg hätte. Aber die Kriegserklärung der größten
Supermacht erfüllte nur eine tiefe Sehnsucht der Terroristen nach
Weltbedeutung. Ich habe in der Auseinandersetzung mit der RAF
gelernt, dass man Terrorismus durch Kriegserklärungen und Bildung
sauberer Fronten nicht schwächt, sondern stärkt.
F: Die Bundesregierung leugnet doch die Probleme Afghanistans
nicht. Sie will angesichts der Schwierigkeiten ihre Anstrengungen
verstärken.
A: Die Sowjets hatten 100.000 Soldaten. 250.000 reichten nicht im Irak.
Militärs vor Ort erklären, wir brauchen 800.000. Es gibt einen
ständigen Nachschub von Kämpfern aus Pakistan, das westlicher
Verbündeter ist und Atomwaffen besitzt. Ich bezweifle, dass wir den
Krieg, den die Amerikaner im Irak gerade verloren haben, in
Afghanistan gewinnen können. Europas Gesellschaften sind
kriegsuntüchtig und kriegsunwillig - was das einzig gute Erbe unserer
Kriege, Verbrechen und Ideologien ist. Kein Land der Welt kann auf
Dauer einen Krieg führen, den seine Bevölkerung nicht will und der
seine Ziele nicht erreicht. Was Afghanistan braucht, ist endlich ein
Rückzug der westlichen Bombengeschwader und der
Missionsideologen einer neuen Weltordnung, die die wahre Welt gar
nicht kennt.
F: Überlassen Sie Afghanistan damit nicht den Terroristen?
A: Ich ignoriere doch diese Zweifel nicht, ich habe selber welche.
Doch setze ich darauf, daß die afghanische Gesellschaft nach den
Taliban eine andere ist, als zu der Zeit, als die Islamisten die Macht
übernahmen. Damals waren sie die Sieger über die Sowjets und noch
in einem gewissen fundamentalistischen Urzustand. Die Afghanen
von heute kennen den Terror durch und durch und werden ihn
langfristig nicht zulassen.
F: Wo ist etwas Ähnliches je gelungen?
A: Bei uns heißt es oft, islamische Gesellschaften hätten selbst nicht
die Kraft, die Herausforderung durch islamistische Gewalttäter zu
überwinden . Das ist doch historischer Hochmut. Denken Sie an die
drei Beispiele Algerien, Marokko und Türkei. Algerien hat ohne
westliche Hilfe in einem opferreichen Kampf den islamistischen Terror
besiegt. Dazu gehörte aber auch ein Dialog mit kooperationsbereiten
Teilen der Islamischen Heilsfront. In Marokko bietet der König den
Islamisten eine Integration in den politischen Prozess unter der
Voraussetzung an, dass sie der Gewalt abschwören. Auch in der
Türkei ist es gelungen, die erstarkenden islamistischen Bewegungen
in einen islamisch-demokratischen Prozess zu integrieren.
Voraussetzung war, dass sich die türkische Regierung nicht völlig in
den Irak-Krieg hineinziehen ließ. Die Bedrohung dieser Gesellschaften
durch eine westliche Militärintervention stellen doch alle moderaten
Kräfte unter den Verdacht, ob sie nicht etwa mit den "Aggressoren"
sympathisieren.
F: Was heißt das für Afghanistan?
A: Wir müssen – mit Menschen und enormen Mitteln - den Weg
stützen, den die Afghanen selbst für möglich halten. Ein Rückzug
wäre dafür eine Chance, genau wie damals in Vietnam.
F: Dort musste sich die Großmacht USA in den 70er Jahren
eingestehen, dass ihre Militärintervention gescheitert war. Trägt der
Vergleich?
A: Diesen Vergleich habe nicht ich erfunden, das hat George W. Bush
getan. Während er daraus den Schluss zieht, im Irak müssten die USA
nun anders als damals in Südostasien den Krieg durchhalten, ziehe
ich einen anderen Schluss: Erst als die Amerikaner aus Vietnam
abzogen ,wurden die Reformkräfte in die Lage versetzt, in den
sozialistischen Gesellschaften Veränderungen anzustoßen, die am
Ende zum Zusammenbruch des ganzen sozialistischen Systems
führten. Nur wer den Krieg gegen den Terror einstellt, kann den Terror
besiegen.
F: Zurück zu den Grünen: Wie verändert die neue Generation die
Partei?
A: Die Neuen fügen sich nicht in die alten Machtstrukturen der
Grünen, sie kommen woanders her. Die Fischer-Strategien waren
immer auf die Machtspiele in Berlin und in Großstädten beschränkt,
die grüne Region ist näher am Ursprung der Grünen.
F: Was heißt das für die Politik der Grünen?
A: Robert Zion, der Initiator des Sonderparteitags, hat einen klugen
Satz gesagt: Eine Partei, die nicht den Nachweis der
Oppositionsfähigkeit bringe, müsse über Regierungsfähigkeit gar
nicht erst nachdenken. Wir haben 2005 wirklich verloren, es war kein
Zufall. Nur in der Opposition lässt sich Regierungsfähigkeit erringen,
nicht im Durchhalten der alten Regierungsprogramme. Wir müssen
von unten wieder Vertrauen aufbauen.
F: Haben die Grünen dann nicht die falsche Führung?
A: Die Fraktionsführung hätte im März wissen müssen, dass sie die
Partei abgrundtief brüskiert, wenn die Mehrheit der Fraktion für die
Tornados stimmt. Auf dem Parteitag – vielleicht mit Ausnahme von
Bütikofer – haben alle Führungsleute zu dröhnend und zu sehr vom
Berliner Hochplateau aus geredet.
F: Gehört es zum neuen Stil der Grünen, dass Parteifreunde, die
andere Argumente vertreten, gnadenlos nieder gebuht werden, wie es
in Göttingen Daniel Cohn-Bendit und Ralf Fücks widerfuhr?
A: Ich konnte den Parteitag krankheitsbedingt nur in der
Fernsehübertragung verfolgen. Daniel Cohn-Bendit hat eine
grottenschlechte Rede gehalten. Ralf Fücks wurde ausgebuht, weil die
Delegierten den Eindruck hatten, die Redeliste sei vom
Parteitagspräsidium manipuliert, was nicht stimmte.
F: Ist es nicht Aufgabe der Grünen, ihren Wählern und Anhängern eine
Stimme zu geben? Die befürworten laut Umfragen sowohl Isaf als
auch Tornados in weit höherem Maße als die anderer Parteien?
© 2015 Dr. Antje
Vollmer