Hysterie verstellt den Blick (TSP 21.10.2001)
Der Tagesspiegel 21.10.2001
Trialog
Hysterie verstellt den Blick
Im Zusammenhang mit dem 11. September taucht immer wieder ein
Begriff auf: das Böse. "Das Böse schlechthin, Menschenverachtung
und Barbarei haben uns gestern angegriffen" sagte Friedrich Merz in
der Bundestagsdebatte am 12. September. Das klingt unheimlich,
abgründig, apokalyptisch - es klingt aber auch ohnmächtig. Es ist
genau dieser Ton, der jene Hysterie begünstigt, von der dann alle
Beruhigungs- und Besonnenheitsformen abperlen. Man schlage nur
jede beliebige Tageszeitung auf und lese die Überschriften. Da wird
Angst vermittelt, selbst unter den Formeln der Angstabwehr.
Terrorismus entzieht sich nicht jeder rationalen Erkenntnis.
Terrorismus ist verstehbar, deswegen ist er auch besiegbar, wie alles,
was von Menschen gemacht ist. Noch wissen wir nicht alles. Vielleicht
werden wir nie alles darüber wissen, aber wir können so viel
begreifen, dass wir wirksame und vernünftige Gegenstrategien
anpacken können.
1.) Terrorismus braucht ein Urtrauma, mit dem er sich motiviert. Das
Urtrauma in der islamischen Welt und bei allen arabischen Staaten ist
der Nahostkonflikt und die Besetzung der heiligen Stätten Mekka und
Medina durch sogenannte "Fremde". Jede Gegenstrategie muss damit
anfangen, diesen Konflikt zu lösen. Das genau versucht jetzt Joschka
Fischer. Wenn wir schon damit nicht die Terroristen selbst erreichen,
so bricht man doch das Schweigen auf, das viele islamische
Gesellschaften zur Zeit aufweisen.
2.) Die ideologischen Köpfe terroristischer Gruppen sind immer
Intellektuelle. Dieses Kennzeichen teilen sie mit anderen gewalttätigen
Ideologien des letzten Jahrhunderts. Armut, Unterdrückung,
Ohnmacht, nationale Demütigung, das ist nur der Stoff, aus dem diese
Ideologen ihre Theorien basteln und mit dem sie Anhänger werben.
Sie selbst kommen eher aus guten Familien, neigen stark zu
autoritärem Verhalten und moralisierendem Sektierertum. Wer sich um
die wirklichen Probleme der Völker kümmert, schafft die besten
Bedingungen, um diese Fanatiker von den Menschen zu isolieren,
über deren Seelen sie Macht erlangen wollen.
3.) Terroristen brauchen Märtyrer. In diesem Sinne gab es keinen
Geheimcode in der Rede bin Ladens. Die Botschaft ist er selbst.
Dafür diese Botschaft rekrutiert er Nachfolger, selbst nach seinem
Tod. Deswegen muss man jede Überreaktion vermeiden.
Gerade in der Verfolgung der ideologischen Köpfe ist äußerste
Rechtsstaatlichkeit ein Erfolgsgebot.
4.) Terroristen vertreten ein apokalyptisches Weltbild, zu dem der
Begriff des heiligen Krieges hervorragend passt. Wer ihnen in der
Sprache des Heiligen Krieges antwortet, bestätigt sie, statt sie zu
widerlegen.
5.) Das Gefährlichste am Terrorismus ist die zweite, dritte und vierte
Generation, die in der Regel noch anonymer, gesichtsloser,
brutalisierter und isolierter reagiert. Alle Gegenmaßnahmen müssen
darauf abzielen, diese Geiselnahme der Köpfe zukünftiger
Generationen für die terroristischen Feindbilder zu unterbinden. Wo
das nicht gelungen ist (bei der IRA, der Eta, Kolumbien) droht eine
Verewigung des Konfliktes. Hier ist der eigentliche Ort politischer
Prävention.
6.) Gerade weil der Terrorismus von apokalyptischen Weltbildern,
Urtraumata, Märtyrerverpflichtungen, fanatischen Charismatikern
geleitet wird, gerade deswegen ist er mit militärischen Strategien nicht
besiegbar. Insofern ist auch die USA "im Kampf gegen den
Terrorismus keine Supermacht" (Roger de Weck). Hier genau ist der
Punkt, wo ehrliche Solidarität gefragt ist. Vor allem aber ist es wichtig,
die eigenen Gesellschaften jenen polarisierten Weltbildern und jeder
Hysterisierung zu entziehen, die der Nährboden für terroristische
Rekrutierungen in der Zukunft sein können.
© 2015 Dr. Antje
Vollmer