Michael Endes Kritik des Finanzsystems in MOMO
MOMO als gesellschaftliche Utopie
I.
Was ist eine Utopie ??
Im nüchtern dem Gegenwartsverständnis nachforschenden Duden lesen wir:
-
Ein undurchführbarer Plan
-
Eine Idee ohne realen Hintergrund
Und als Synonyme werden angegeben:
-
Phantasiegebilde
-
-Illusion
-
-Irrealität, Luftschloss, Phantom, Traumbild, Traumgebilde,
Unwirklichkeit, Vision ,Vorstellung, Zukunftstraum, Wunschtraum
und sogar abwertend:
-
Hirngespinst
-
Kopfgeburt
-
-Schimäre
-
Trugbild
-
Spinnerei
-
Wahn.
Man sieht, der Begriff Utopie ist heute, im Zeitalter des vorherrschenden,
meist zynischen Realismus, keineswegs positiv besetzt.
Und lesen wir bei Wikipedia nach – was ja ein seriöser Zeitgenosse nicht tun
sollte, was aber doch der Auskunfts-Machtpol der meisten ist – dann heißt es
auch da:
„Eine Utopie („der Nicht-Ort“...) ist der Entwurf einer fiktiven
Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle
Rahmenbedingungen gebunden ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird
UTOPIE auch als Synonym für einen von der jeweils vorherrschenden
Gesellschaft vorwiegend als unausführbar betrachteten Plan, ein Konzept
und eine Vision, benutzt.“
Schon bei diesem kurzen Einstieg wird deutlich: dem Begriff Utopie ist bereits
das Kennzeichen des Unangemessenen, des gesellschaftlichen
Außenseiters auf die Stirn gebrannt. Die Utopie hat schon verloren, bevor sie
ins Leben und ins Denken kommt. Ihr ist schon das Urteil gesprochen („ein
von der vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar
betrachteter Plan“), bevor sie den Raum der gesellschaftlichen Agora
überhaupt betreten und ihr Anliegen vorgestellt und gegen Einwände
verteidigt hat.
II.
Michael Ende hat Romane nie nur für Kinder geschrieben, „denn im Grunde
schreibe ich überhaupt nicht für Kinder. Ich meine damit, daß ich während
des Schreibens niemals an Kinder denke, mir niemals überlege, wie ich mich
ausdrücken muß, damit Kinder mich verstehen, niemals einen Stoff auswähle
oder verwerfe, weil er für Kinder geeignet oder nicht geeignet ist.“ Vor allem,
so betont er, sind es „durchaus keine pädagogischen oder didaktischen
Absichten, die mich bei meiner Arbeit leiten...Die wahre, eigentliche
Triebfeder , die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und
absichtslosen Spiel der Phantasie...Ein solches Spiel kann man nur
absichtslos betreiben, denn wer vorher schon wissen oder planen will, wohin
ein solches Abenteuer einen führt, der verhindert damit schon, dass es dazu
kommt.“ (aus: Warum schreibe ich? Momo Schulausgabe S.333)
Trotzdem ist er – vermutlich also eher spielerisch und sich dem Zufall und der
Phantasie überlassend - mit seinem Buch MOMO in eben jenen gefährlichen
Bereich geraten, der „ „von der vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als
unausführbar“ betrachtet wird. Er hat sich in utopische Gefilde treiben lassen.
Das verraten ja schon die Namen: Die Titelheldin Momo gerät am Ende eines
langen Weges, von der Schildkröte Kassiopeia geführt , auf der Flucht vor
den Grauen Herren, den Zeit-Dieben, in eine Gasse, die „Niemals-Gasse“
heißt und wird dort in ein Haus eingelassen, das das „Nirgend-Haus“ heißt.
Also ein u-topisches Haus in einer u-topischen Gasse, die alle anderen
Bewohner der Stadt und auch die Grauen Herren nicht kennen und nicht
erreichen können. Und selbst Momo muß, so heißt es, wenn sie hier vorwärts
kommen will, rückwärts gehen.
Ist schon der Weg utopisch, die Adresse utopisch, das Ziel des Weges
utopisch, so könnte man vermuten, auch in einem Haus des Nichts im
Nirgendwo anzukommen. Aber weit gefehlt! Das Haus , das Momo nun
betritt, ist ein wahrer Ort durchaus realer, irdischer, sinnlichen Genüsse, ( es
gibt aus einer dickbauchigen goldenen Kanne heiße Schokolade in goldenen
Tassen, dazu goldbraune knusprige Semmeln mit goldgelber Butter und
Honig, der ganz wie flüssiges Gold aussah) .Es ist ein Ort der Geborgenheit
und des Schutzes vor realen Verfolgern.
Es ist aber auch ein Ort mit einem Geheimnis von großer magischer
Schönheit , angefüllt mit Visionen eines ungeahnten Wissens. Meister Hora
stellt sich heraus als der Schöpfer ( oder Verwalter? -er spricht ja von seiner
„Pflicht“, den Menschen ihre Zeit zuzuteilen) aller menschlichen Lebenszeit
und als der, der in alle Geheimnisse der geheimnisvollen unsichtbaren Zeit
eingeweiht ist. Momo, die danach fragt, bekommt keine Antworten, sondern
nach der Initiation eines Rätsels, das sie zu lösen versteht, etwas zu sehen,
zu hören, zu fühlen und zu riechen – nachdem sie ja schon beim Eintritt den
„Hunger vieler Jahre“ stillen durfte. Sie sieht, von Meister Hora zunächst mit
verdeckten Augen auf seinen Armen getragen (Der Weg ist also in diesem
Fall keineswegs das Ziel) eine wunderbare Vision eines Ortes von
überwältigender Einzigartigkeit . „Goldene Dämmerung umgab sie“.
Der Ort, den sie sieht und über den sie nichts zu fragen und nichts zu sagen
versprochen hat, ist groß wie das Himmelsgewölbe, erfüllt von einer einzigen
Lichtsäule, die wie ein riesiges Pendel über einer makellos dunklen
Wasserfläche schwebt und hin und her schwingt. An deren Rändern
entstehen jeweils Stunden-Blumen von überirdischer Schönheit mit
leuchtenden Farben, von denen Momo nie geahnt hatte, daß es sie
überhaupt gibt. „Der Duft allein schien ihr wie etwas, wonach sie sich immer
gesehnt hatte, ohne zu wissen, was es war.“ Und sie hört Musik wie
klingendes Licht. „Es war Musik und war zugleich doch etwas ganz anderes.“
Die Musik des Sternenzelts eines unendlichen Alls und die Stille des Kosmos.
Genau genommen ist es nicht eine Utopie, die Momo hier wahrnimmt,
sondern eine esoterische Vision, eine mystische Offenbarung vom Urgrund
des Seins. Momo, die verfolgt wird vom riesigen Heer der Grauen Herren und
die sich dafür rüstet, es mit dieser unheimlichen Macht aufzunehmen, wird
hier gestärkt und in-spiriert für das, was sie an Aufgaben vor sich hat. Aber
sie sieht und findet an diesem Ort doch nicht die Utopie einer Gegenwelt.
Schon garnicht findet sie hier eine gesellschaftliche Utopie, den
gesellschaftlichen Gegenentwurf, nach dem auch wir suchen. Hier, wo alle
Zeit der Menschen entsteht, steht sie zugleich in Ewigkeit still, schwebend
und tönend in sich selbst.
Deswegen muß Momo, die kleine Mystikerin, auch von diesem Ort wieder
zurück. Zurück in die Welt, in der die Grauen Herren die Macht übernommen
haben.
Und wir sollten ihr folgen.
III.
Am 3. September 1986 schreibt Michel Ende einen Brief an den Ökonomen
Werner Onken. Der Anlaß war, daß Onken ihm einen eigenen Vortrag
zugeschickt hatte, in dem er als Hintergrund des Romans MOMO eine
intensive Auseinandersetzung des Autors mit dem kapitalistischen
Finanzmärkten und ihrem ruinösen System von Zins- und Zinseszins
ausgemacht hatte.
( siehe Werner Onken: Die ökonomische Botschaft von Michael Endes
„Momo“ in: Verlag für Sozialökonomie, sozialökonomie.info)
Michael Ende antwortet ihm: „Ich freue mich sehr, daß Sie mein Buch so gut
verstanden haben, vor allem auch, was die esoterischen und ökonomischen
Hintergründe betrifft.
Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, daß die Idee des
„alternden Geldes“ im Hintergrund meines Buches MOMO steht. Gerade mit
diesen Gedanken Steiners und Gesells habe ich mich in den letzten Jahren
intensiver beschäftigt, da ich ja zu der Ansicht gelangt bin, daß unsere
Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne daß zugleich, oder sogar vorher,
die Geldfrage gelöst wird.“
Wir haben also hier – von Werner Onken gefunden, von Michael Ende
persönlich bestätigt – einen Hinweis in welcher Richtung wir die
gesellschaftliche Utopie suchen müssen, die in den Roman MOMO
eingewoben ist. Und wenn man bedenkt, daß die erste Auflage von MOMO
bereits1973, vor genau 40 Jahren erschien - also vor mehr als einer
Generation , lange bevor wir alle gezwungen wurden, uns mit den
internationalen Finanzmärkten zu beschäftigen - muß man die frühe und so
hellsichtige Analyse eines Michael Ende bewundern. Damals, als alle Welt
mit dem Kalten Krieg, der Hochrüstung und den Ölkrisen beschäftigt war,
ahnte er ganze Szenerien inklusive des sie beherrschenden Personals
voraus., die für die meisten von uns erst seit der Jahrtausendwende sichtbar
wurden.
Da sind voran die Grauen Herren in ihrem einschüchternden
Selbstbewußtsein, jene neuen Herrscher der Stadt, die eine neue
Weltordnung und ein überlegenes Lebensmodell proklamieren. Alle sehen sie
gleich aus, grau, bleich, gehetzt und herrisch zugleich. Sie sind zwar nicht so
jung-kreativ-federnd, und immer gerade dem Fitness-Studio entsprungen wie
die heutigen Sendboten der Wallstreet und der Londoner Börse, die alle
davon träumen, einmal durch den Jungbrunnen des Silicon Valley zu
schwimmen. Nein, die Grauen Herren von MOMO tragen dreiteilige graue
Zwirnanzüge und englische Hüte, sie rauchen Zigarren und fahren in dicken
Autos - aber sie verbreiten wie die Schnösel unserer neuen ökonomischen
Ordnung eine agressive, genormte Uniformität, sie sind überall gegenwärtig,
sie beobachten alles, was in der Stadt geschieht, sie treffen sich an
geheimen Orten, sie spähen alles aus und lassen das auch jeden Bewohner
der Stadt spüren. Sie verbreiten um sich Kälte, Angst und Langeweile. Sie
behaupten, daß nur der, der lebt wie sie, richtig lebt und zwingen bald der
ganzen Stadt ihre neuen Regeln auf: Zeit sparen, Zeit sparen und alle
ersparte Zeit bei ihnen in ihrer ominösen und anonymen Zeit-Sparkassen
umgehend zu deponieren.
Selten ist in so einfachen Bildern der Mechanismus der kapitalistischen
Enteignung der Lebenszeit der arbeitenden Menschen so plastisch und
zwingend geschildert worden wie in diesem Roman für Kinder und
Erwachsene. Und weil das einfach wahr ist, was hier in der Form einer
Abenteurergeschichte mit märchenhaften Zügen erzählt wird, deswegen war
gerade dieses Buch so ein Welterfolg. Die Menschen spüren das nämlich
sehr genau, wenn einer etwas Unheimliches , da auf sie alle zukommt, in
verständliche Bilder fassen kann. Und indem sie diese Bilder begreifen,
begreifen sie etwas von ihren eigenen Ängsten und Vorahnungen.
Silvio Gesell hatte vom „alternden“ und vom „rostenden“ Geld gesprochen
und Michael Ende setzt dies um in das poetische Bild der geraubten
Stunden-Blumen der Menschen, die in einem riesigen Bergwerk getrocknet
und gelagert werden, damit die Grauen Herren sich davon bedienen, um
daraus ihre grauen Zigarren zu drehen, mit denen sie die einstmals klare Luft
der Stadt verpesten und ihren Bewohnern die Atemluft vergiften. Aber so, in
ihren grauen gierigen Fingern zerfällt die kostbare Lebenszeit in kalten
Rauch, ins reine Nichts.
Die gesparte, nicht für das Leben genutzte Stundenblume ist nutzlos, wie die
Bilanzen derer, die Geld horten, das sie anderen abpressen, obwohl sie
selbst nicht einmal dafür arbeiten. Und der Verlauf der Geschichte erhält
seine Dramatik dadurch, daß es keineswegs ausgemacht ist, ob nicht am
Ende das Reich der Grauen Herren mit dem toten, vergilbten, nutzlosen
gehorteten Geldbergwerken sowohl der Stadt der Menschen wie dem
mystischen goldenen Ort des Meister Hora den Garaus machen wird.
Selten wurde eine rettende Utopie dringender gebraucht als an diesem
welthistorischen Moment, wo das Geldsystem sich anschickt, die ganze Welt
und das Leben aller Menschen auf Dauer zu versklaven. Schließlich waren
ihm – in der Geschichte des einsamen Mädchens Momo beängstigend
genau beschrieben – auch schon die letzten und besten Freunde zum Opfer
gefallen ( Beppo Strassenkehrer und der Fremdenführer Gigi )
IV.
Das „Altern des Geldes“ in den Überlegungen von Silvio Gesell und ihm
folgend bei Michael Ende ist aber nicht nur eine Beschreibung dessen, was
der Umgang mit dem gehorteten Geld bei den Menschen anrichtet – sie
werden selbst alt, grau, gehetzt und freudlos, indem sie all ihre Lebenszeit in
der Form von Geld in der Zeitsparkasse der Grauen Herren deponieren .
Nein, wichtig ist zu betonen :Das Geld m u s s altern , wie alles was auf der
Erde existiert und den natürlichen Kreisläufen von Werden und Vergehen
unterworfen ist. Geld ist ursprünglich ja nichts anderes als ein vereinbartes
Tauschmittel nach gesellschaftlicher Übereinkunft, mit dem Menschen die
Dinge, die sie entweder selbst produzieren oder brauchen, in einen Prozess
des gesellschaftlichen Austausches transferieren. Es ist also ein
Tauschmedium , eine Erleichterung beim Austausch von Waren und Werten,
auf die es sich immer bezieht. Denn an sich selbst ist es nur ein bedrucktes
Papier oder ein Stück geprägtes Metall, das außer dem reinen Materialwert
keinen Wert hat und schon garnicht selbst „arbeitet“.
Wenn also die Grauen Herren - wie die Zyniker und Schnösel der Wallstreet -
mit der Methode von Zins und Zinseszins, von Börsenspekulationen , Hedge-
Fonds und Derivaten, nicht nur eine unendliche , durch keine realen Werte
mehr gedeckte Vermehrung der Geldmengen, sondern geradezu deren
Verewigung anstreben, indem sie die zu Geld geronnene Lebenszeit der
Menschen in Tresoren vergraben, postulieren sie für das Geld eine Allmacht
und Gottähnlichkeit, die ihm nicht zusteht. In Wahrheit aber begehen sie mit
dieser Hybris einen blasphemischen gigantischen Bluff, sie unterliegen einer
Selbsttäuschung, einer Fata Morgana. Es entsteht nichts als eine riesige
Luftblase von nominalen Geldwerten, denen kein Realwert mehr entspricht.
So läßt Michael Ende in seiner Kurzgeschichte, die mit den Worten beginnt:
„Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle“ einen falschen
Propheten auftreten wie im Alten Testament, der predigt mit verlogenem
charismatischen Pathos: „Das Geld vermag alles ...Steine macht es zu Brot
und schafft Werte aus dem Nichts, es zeugt sich selbst in Ewigkeit, es ist
allmächtig, es ist die Gestalt, in der Gott unter uns weilt, es ist Gott!“
( Aus Michael Ende: der Spiegel im Spiegel, München 1990 S.41- den
Hinweis verdanke ich zuerst Frank Bohner, dem Vorsitzenden der Initiative
für Natürliche Wirtschaftsordnung , in: Michael Ende, das Mysterium des
Geldes und die Finanzkrise)
Und weiter: “Wo alle sich bereichern, da werden am Ende alle reich! Und wo
alle auf Kosten aller reich werden, da zahlt keiner die Kosten! Wunder aller
Wunder! Und wenn Ihr fragt, liebe Gläubige, woher kommt all dieser
Reichtum? Dann sage ich Euch: Er kommt aus dem zukünftigen Profit seiner
selbst! Sein eigener zukünftiger Nutzen ist es, den wir jetzt schon genießen!
Je mehr jetzt da ist, desto größer ist der zukünftige Profit, und je größer der
zukünftige Profit, desto mehr ist wiederum jetzt da. So sind wir unsere
eigenen Gläubiger und unsere eigenen Schuldner in Ewigkeit, und wir
vergeben uns unsere Schulden, Amen !“( S. oben S.41f)
So stand es in jener Kurzgeschichte aus dem Jahre 1983 - Jahrzehnte,
bevor die Hedgefonds, Derivate und Spekulanten ganze Volkswirtschaften
ruiniert hatten. Michael Ende beschrieb diese Predigersatire lange, bevor
unter der wirklichen Macht-Kanzel der neoliberalen globalisierten
Finanzwirtschaft die zahllosen Jünger von Goldmann -Sachs, Lehmann-
Brothers und Milton Friedmann sich versammelt hatten, all jene
Zauberlehrlinge namens Mario Draghi, Paul Wolfowitz, Josef Ackermann,
Angela Merkel und die unendliche Zahl ihrer gläubigen Anhänger, Mitläufer
und Mittäter. Un d ihr Amen heißt: Stirbt der Euro, stirbt Europa! Oder es
heißt: Dieser Kurs ist alternativlos! Amen!
V.
So sind wir, als wir dem Mädchen Momo aus dem Goldenen Haus des
Meister Hora zurück in die reale Welt folgten, plötzlich ziemlich hart auf dem
Boden unserer heutigen Wirklichkeit aufgeprallt. Utopie hat nämlich immer
mit Gesellschaftskritik zu tun. Und vielleicht ist das der wahre Grund, warum
sie , die Utopie, heute bei Hofe, in der Politik und in den Medien, so schlecht
im Kurs steht.
Aber jede Utopie , die ihren Auftrag gerecht werden will - nämlich etwas zu
beschreiben, was noch keinen Ort hat, was man nur auf den Flügeln der
Phantasie und der Imagination erreichen kann, - jede Utopie braucht in ihrem
innersten Kern einfache Bilder, die einfache Menschenwahrheiten
ausdrücken.
Die Utopie, die im Buch MOMO beschrieben ist, kommt so schlicht daher,
dass man sie fast übersehen könnte. Sie ist gleich am Anfang des Buches
beschrieben. Sie handelt vom Leben eines kleinen Mädchens in den Ruinen
eines alten Amphitheaters. Das war in den „alten, alten Zeiten, als die
Menschen noch in ganz anderen Sprachen redeten“ entstanden und kaum
jemand in der Gegenwart wußte noch seine Bedeutung. Aber an diesem
halbvergessenen Ort sagt eines Tages das Mädchen Momo, das dort von
einigen Nachbarn und Kindern aufgefunden wird. „Ich bin hier zu Hause“.
Über Herkunft, Eltern, Schicksal und Familie weiß es nichts zu berichten.
„Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.“ Es stellt keine
Ansprüche: „ich brauch nicht viel“ außer der Bitte, für sich selbst sorgen zu
wollen und keinesfalls in ein Heim oder eins der späteren Kinder-Depots der
Grauen Herren zu kommen. Was Momo braucht ist Natur, Stille, Freunde und
Freiheit.
Die kleine Kammer unter dem halbzerfallenen Amphitheater entwickelt sich
zu einem Zentrum für das ganze Viertel. Nachbarn und Freunde helfen, die
bescheidene Bleibe gemütlich einzurichten, sie sind alle arm, aber bringen ihr
von allem ,was sie an Essen und nützlichen Utensilien haben. Das
Geschenkte wird wiederum zwischen allen aufgeteilt, und so gibt es viele
Abende für fröhliche Zusammenkünfte und Tage für selbstvergessene Spiele
und Abenteuer für die Kinder. Als Momos größte Fähigkeit stellt sich nämlich
heraus, dass alle in ihrer Nähe auf die lustigsten und kreativsten Ideen
kommen und daß sie so gut zuhören kann, dass, allein auf dieses Zuhören
hin mancher Streit und Kummer wie weggeblasen erscheint. „Wirklich
zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs
zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.“
Und wenn man so zuhören kann, dann findet auch der langsamste seine
Sprache, und genau die Worte, nach denen er lange gesucht hat. Dann
sprechen Straßenkehrer wie große Philosophen und jeder versteht sie.
Momo hat zwei besondere Freunde, Gigi und Beppo. Und dem einen von
ihnen gelingt einmal die perfekte Beschreibung einer utopischen Vision, wo
alles in Eins fällt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wo die Welt bei
sich selbst ankommt, ein Augenblick vollkommener Selbsterkenntnis.
„Ich habe uns wiedererkannt“, sagte er zu Momo . “Das gibt es manchmal –
am Mittag, wenn alles in der Hitze schläft. – Dann wird die Welt durchsichtig
– Wie ein Fluß, verstehst du? – Man kann auf den Grund sehen...
Da liegen andere Zeiten, da unten auf dem Grund.“
Berlin, 10.August 2013
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