Wir führen praktisch einen Krieg der Kulturen (Interview, Spiegel online
02.11.01)
SPIEGEL ONLINE - 02. November 2001, 11:38
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,165679,00.html
Interview mit Antje Vollmer
"Wir führen faktisch einen Krieg der Kulturen"
Wer hat Schuld an der terroristischen Eskalation? Führt der Krieg zur
Polarisierung zwischen dem Westen und dem Islam? Die grüne
Bundestagsvizepräsidentin Vollmer, derzeit auf Asienreise mit dem Kanzler,
über den Anti-Terror-Feldzug und die Weltordnung der Zukunft.
SPIEGEL ONLINE: Frau Vollmer, die Asienreise des Bundeskanzlers
sollte ursprünglich nur nach China und Indien führen und dem
Geschäftlichen dienen. Nun hat er kurzfristig auch Pakistans Diktator
Muscharaf aufgesucht, um sich als Anti-Terror-Diplomat zu beweisen.
War das ein Erfolg?
Antje Vollmer: Dass diese politische Wirtschaftsreise nicht schlicht
abgesagt wurde, liegt daran, dass alle drei Staaten auch mit der
internationalen Allianz gegen den Terror verknüpft sind. Allerdings auf
sehr verschiedene Weise. Pakistan gehörte bisher zu den Ländern, die
gemieden wurden. Dass nun alle Granden der Welt sich dort die
Klinke in die Hand geben, hat mit der Gefahr zu tun, dass Pakistan
innenpolitisch explodieren und dann der Krieg gegen die Taliban
einen unberechenbaren Verlauf nehmen könnte.
SPIEGEL ONLINE: Aber nimmt dieser Krieg nicht bereits jetzt einen
unberechenbaren Verlauf, weil kein politisches Konzept dahinter
steht?
Vollmer: Richtig ist: Aus dem Kampf gegen Terror wurde unversehens
ein Krieg gegen das Taliban-Regime. Der ist nicht zu führen, wenn
Pakistan nicht stabilisiert wird. Aber keiner weiß genau, wer damit nun
stark gemacht wird. Eine böse Ironie der Geschichte ist, dass erst
zweifelhafte Machthaber aufgebaut werden, weil sie kurzfristig
nützlich scheinen, dann will man sie wieder loswerden und muss sie
verlustreich bekämpfen. Das gilt für Saddam Hussein, Slobodan
Milosevic - und übrigens auch für Osama Bin Laden. Eine weitsichtige
Strategie ist das nicht.
SPIEGEL ONLINE: Pakistan ist nicht unschuldig am Aufstieg der
Taliban und Osama Bin Ladens. Wohin führt dieser Krieg?
Vollmer: Wer einen Krieg beginnt, sollte vorher die Ziele definieren,
die er politisch oder militärisch durchsetzen will. Das Beunruhigende
an diesen Aktionen ist, dass kein Ziel erkennbar ist, noch nicht einmal
nach militärischer Logik. Also wurde die Anti-Terror-Maßnahme zu
einer Anti-Taliban-Aktion. Ich bin der Auffassung, dass Terrorismus
sich nicht militärisch bekämpfen lässt.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt nicht sehr zuversichtlich.
Vollmer: Nein, denn was kommt danach? Was wird insgesamt aus der
islamischen Seite dieses Krieges? Die Absicht, mit diesen Aktionen
den Fundamentalismus im Islam zu bekämpfen, droht zu scheitern.
Das Problem des Fundamentalismus im Islam kann nur aus dem Islam
selbst heraus gelöst werden. Der Westen besitzt kulturell dazu keinen
Schlüssel. Das müssen wir nüchtern erkennen.
SPIEGEL ONLINE: Also bestätigen Militärschläge nur den Vorwurf
islamischer Kritiker, dass der Westen kultur- und
religionsimperialistisch handelt?
Vollmer: Der diplomatische Staffellauf so vieler Außenminister so
vieler Staaten soll dem gerade entgegenwirken. Doch wir sind noch
keinen Schritt weiter mit dem Ur-Trauma der islamischen Welt, dem
Palästina-Konflikt. Ich fürchte, auch die USA sind nicht mehr in der
Lage, allein den Nahost-Konflikt zu lösen. Es war ein Fehler der
Europäer, nicht früher zu erkennen, dass dieses Problem von den USA
allein nicht zu lösen ist. Dieser zentrale Konflikt muss insgesamt
dringend unter dem Dach der Uno angegangen werden.
SPIEGEL ONLINE: Aber zwischen Uno und der Militär-Allianz bestehen
Differenzen. Der Generalsekretär Kofi Annan fordert wie viele andere
inzwischen auch ein Ende der Militärschläge.
Vollmer: Bei allen notwendigen Maßnahmen darf eine Frage nicht zu
kurz kommen: Was sind die Ursachen der Krise? Das ist ein
Zusammenspiel aus dem ewigen Nahost-Konflikt, dem Verlust alter
Ordnungsmuster, der Armut, Destabilisierung oder Demütigung
ganzer Kulturen und Regionen.
SPIEGEL ONLINE: Es sind aber nicht die Armen dieser Länder, die
sich erheben.
Vollmer: Nein, eben nicht, sondern Mitglieder einer
Intellektuellenschicht, die die Religion und das Armutsgefälle
ideologisch instrumentalisieren und sich dafür zu Märtyrern ernennen.
Terrorismus ist nicht das unheimliche Böse an und für sich, das
einfach über die Menschheit kommt. Terrorismus ist verstehbar und
deshalb auch bekämpfbar. Es hat 15 bis 20 Jahre gedauert, bis es zu
dieser Eskalation kam, die am 11. September ihr Gesicht zeigte. Es
wird vermutlich mindestens genauso lange dauern, bis man das
wieder im Griff hat, selbst wenn man alles richtig macht.
SPIEGEL ONLINE: Aber ist der Fingerzeig an die Reform-Islamisten,
Religion und Politik nicht zu vermengen, nicht schon wieder eine
Herablassung gegenüber dem Islam?
Vollmer: Nein, es ist die einzige Art, ihn ernst zu nehmen und in der
Moderne aktionsfähig zu machen. Die islamische Welt muss sich
ausdifferenzieren. Und sie muss die Chance bekommen, aus sich
heraus einen eigenen Pol in der Welt darzustellen, der Gewicht hat.
Wir haben den starken amerikanischen Pol, den halbstarken
europäischen, den kommenden asiatischen, der durch eine
Annäherung von Indien und China immer stärker werden könnte. Der
Islam braucht eine eigene machtpolitische Rolle in der Welt des 21.
Jahrhunderts. Er spürt das genau, und weil er es nicht bekommt,
entsteht eine zusätzliche Kränkung.
SPIEGEL ONLINE: Die Militärschläge verbinden den bisher in sich
gespaltenen Islam nicht nur zu einem Pol, sondern polarisieren
zwischen Westen und den islamischen Völkern.
Vollmer: Tatsächlich stehen wir am Scheideweg zwischen einem
weltpolitischen Konzept der Polarisierung des Westens gegen den
Rest - oder einer neuen Balance zwischen verschiedenen Machtpolen.
Der Westen muss seine alte Politik der Spaltung des Islam in Gut und
Böse und dessen Demütigung und Marginalisierung beenden. Unter
dem Slogan, dass wir keinen Krieg der Kulturen wollen, führen wir
faktisch genau diesen. Auch innerhalb des westlichen Gesellschaften
nimmt die innere Polarisierung gegenüber dem Islam zu. Unter den
Formeln der Angstabwehr wird viel Angst erzeugt.
SPIEGEL ONLINE: Nach dem Ende der bipolaren Welt zwischen Ost
und West fehlte also ein neues Koordinatensystem?
Vollmer: Genau das führte zu jenem anarchisch-chaotischen
Machtgefälle, das sich in dem anarchisch-chaotischen Terror am 11.
September ausdrückte. Wir müssen dringend weg vom
Unilateralismus. Wenn wir Europäer nach den Ursachen des
Terrorismus fragen, können wir uns nicht bequem zurücklehnen und
mit dem Finger auf die USA zeigen. Wir haben ja nicht einmal selbst
einen handlungsfähigen Machtpol zustande gebracht. Da ist Europa in
der Pflicht - und die Staaten des Islam müssen eine ernsthafte Chance
bekommen, auch darin, Religion und Politik rational zu trennen.
SPIEGEL ONLINE: Die Europäer stellen aber auch keine Einheit dar.
Und im Zweifelsfall verweisen sie lieber, wie im Nah-Ost-Konflikt, auf
die USA und verkriechen sich.
Vollmer: Das ist die alte europäische Krankheit, nie rechtzeitig das
welthistorisch Notwendige zu erkennen. Sie einigen sich zu spät, sie
entwickeln zu spät eine Vorstellung von ihrer eigenen Rolle und
verstecken sich gerne hinter den USA. Die Europäer laufen immer
noch in den alten Kostümen im neuen Konflikt herum.
SPIEGEL ONLINE: Das neue Kostüm sieht bisher aber nur nach
Kampfanzug aus.
Vollmer: Vom Strampler in den Kampfanzug. Das hat Tradition: Wer
politisch zu spät agiert, muss in der Regel überreagieren, vor lauter
Schreck, der Lage nicht gewachsen zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Befürworten Sie eine Feuerpause?
Vollmer: Ich bin eher dafür, dass unter Uno-Mandat Schutzzonen in
Afghanistan eingerichtet werden. Fast alle Grenzen sind dicht. Die
Aufnahmekapazität der Nachbarländer ist erschöpft. Diese Zonen
müssen allerdings mit massiver militärischer Präsenz gesichert
werden. In einem Konflikt, der keine klaren Fronten kennt, muss es
Rückzugsmöglichkeiten innerhalb des Landes geben, damit die
Zivilbevölkerung nicht zur Geisel des Krieges wird. Und wenn man es
dann noch schafft, statt Blauhelmen blaue Turbane zu stationieren,
die auch tatsächlich in der Lage sind, die Zone militärisch zu sichern,
wäre auch das ein Fortschritt. Die islamische Welt würde so einen
Beitrag zur Konfliktbewältigung aus sich selbst heraus schaffen.
SPIEGEL ONLINE: Schröder hat gerade die IG Metall abgekanzelt, weil
diese eine Feuerpause forderte. Schily spottet über Intellektuelle, weil
sie sich gegen den Krieg aussprechen. Droht der Politik jetzt die
Arroganz der Macht oder nach der einmal erklärten
uneingeschränkten Solidarität ein, wie es die IG Metall als
Retourkutsche formulierte, "Kadavergehorsam gegenüber den USA"?
Vollmer: In der Zeit nach dem 11. September ist es für niemand
einfach, mit seiner Kritik oder Anfragen Gehör zu finden. Das liegt an
dem Druck und der teilweisen Hysterie. Trotzdem ist es notwendig, in
aller Ruhe nachzufragen. Da darf man nicht feige und nicht zimperlich
sein.
© 2015 Dr. Antje
Vollmer