"Manche kämpfen alte Schlachten"
Antje Vollmer über die Debatte um sexuellen
Missbrauch, alte Grabenkämpfe und neue Opfer der
Medien
Frau Vollmer, wie erklären Sie sich, dass nach Jahrzehnten des
Schweigens so viele Opfer über Missbrauch sprechen?
Das ist eine Reaktion auf das gigantische mediale Interesse an diesem
Thema. Die Opfer sind Kinder, das Thema sexuelle Verirrungen
interessiert immer, das Opferbewusstsein unserer Gesellschaft ist
gewachsen. Und schließlich spielt auch noch eine Rolle, dass die
Öffentlichkeit einen Einblick in bislang verborgene Geheimnisse der
Eliteausbildung bekommt, also auch voyeuristische Interessen.
Warum hielt das Schweigen so lange?
Die Gesellschaft vergisst frühere Debatten nur zu schnell.Ich
beschäftige mich seit längerem mit dem Gewaltregime in staatlichen
und kirchlichen Heimen in der Nachkriegszeit und den
Missbrauchserfahrungen von Heimkindern. Auch da gab es vor
wenigen Jahren ein öffentliches Erstaunen über das Ausmaß der
Gewalt, obwohl wir in den 70er Jahren schon einmal eine Debatte über
die Heime hatten und damals viele Einrichtungen geschlossen
wurden. Jedes Mal wird die alte Debatte unter anderen Akzenten
geführt. Wenn sich der Staub gelegt hat, muss man bilanzieren, wohin
sie uns gebracht hat.
Was erwarten Sie?
Ich erwarte, dass sich einige wesentliche Dinge zum Positiven
entwickeln. Das Thema Pädophilie ist aus der Heimlichkeit
herausgeholt worden. Kinder werden sich in Zukunft besser schützen
können. Sie sind gewarnt und können schwierige Situationen besser
deuten. Es wird künftig genauer aufgepasst werden, wer im
Erziehungsbereich tätig werden darf. Auch in der pädagogischen
Ausbildung wird eine klare Grenzziehung gegen Missbrauch künftig
eine größere Rolle spielen. Schließlich wird die katholische Kirche ihr
Verhältnis zur Sexualität überprüfen müssen im Hinblick darauf, ob es
in einer modernen, säkularisierten Gesellschaft tragfähig ist. Die
katholische Kirche wird sich der Welt stellen müssen, so wie sie ist.
Also nur positive Wirkungen der Debatte?
Überhaupt nicht. Wie immer bei solchen Debatten von vulkanischer
Kraft nutzen manche Teilnehmer die Gelegenheit und kämpfen noch
einmal alte Schlachten. Das Ergebnis einer solchen Debatte ist nicht
nur Aufklärung. Es entstehen auch Pharisäertum,
Schuldverschiebung, Missbrauch von Missbrauchsdebatten und neue
Inhumanitäten.
Was meinen Sie konkret?
Hartmut von Hentig ist zu einem Sündenbock auserkoren worden,
obwohl gegen ihn nichts vorliegt. Ein Journalist der „Süddeutschen
Zeitung“ hat ihn in eine Verhörsituation gebracht, aber ihm dabei nicht
einmal die Grundrechte eines Angeklagten gewährt, zu denen
bekanntlich die Assistenz eines Anwalts oder die
Aussageverweigerung gehört, wenn es um Angehörige geht. Der
Journalist bekam überhaupt nur deshalb Zugang zu dem 85-Jährigen,
weil er als Verfechter der Reformpädagogik angekündigt war. Nun
nutzte er die Nähe zu dem Doyen der Reformpädagogik aus, trinkt mit
ihm einen Wein, lässt sich eine Hühnersuppe kochen und wird Zeuge
seiner persönlichen Erschütterung. Hartmut von Hentig konnte doch
gar nicht anders, als sein eigenes Lebenswerk und auch seine
Loyalität zu seinem Freund zu verteidigen. Das Vertrauen Hentigs
wurde ausgenutzt, um ihn zum Tontaubenschießen freizugeben. Das
habe ich mit Entsetzen gelesen, das warjournalistischer Missbrauch.
Hartmut von Hentig hat den Journalisten empfangen – das musste er
nicht. Er hat seinen Lebensgefährten mit dem Argument verteidigt,
wenn überhaupt etwas passiert sei, dann müsse dieser von Schülern
verführt worden sein. Ist das wirklich ein akzeptables Argument –
zumal für einen Pädagogen?
Dieses Gespräch war ohne jeden Zeugen. Der böse Satz, der dann wie
ein Fallbeil durch den deutschen Blätterwald rauschte, ist nie
autorisiert worden. Der Journalist wusste, dass Hentig danach keine
Chance mehr hatte. Das ist inhuman.
Frau Vollmer, Sie sagen, alte Kämpfe werden neu aufgelegt. Gegen
wen geht es?
Es geht fröhlich gegen die katholische Kirche, die man wegen ihrer
ungeliebten Sexualmoral nun endlich mal vorführen kann. Die Wurzeln
dafür liegen in den Debatten der 70er Jahre. Die katholische Kirche
galt damals als Gegner der großen emanzipatorischen Bewegung,
denken Sie an die Entkriminalisierung der Sexualität, die Akzeptanz
von Schwulen und Lesben. Das konservative Lager und seine Presse
befeuern umgekehrt die beliebte Anti-68er-Debatte neu. Behauptet
wird: Nun zeigt sich wieder einmal, dass der Bruch mit den alten
Regeln, die Libertinage, die Gesellschaft zerstört, weil es dann
angeblich gar keine Grenzen mehr gibt.
Stimmt es nicht, dass die 68er im Kampf gegen eine rigide
Sexualmoral notwendige Grenzen überschritten haben? Manche
Grüne wollten noch in den 80ern Sexualität mit Kindern
entkriminalisieren.
Die 68er selbst haben die Notwendigkeiten dieser Grenzen doch
selbst längst zum Thema gemacht. Auf dem Wahlprogramm-Parteitag
der nordrhein-westfälischen Grünen für die Landtagswahl stimmte
1985 – in einem turbulenten Augenblick – eine knappe Mehrheit dafür,
gewaltfreie Sexualität mit Kindern nicht mehr unter Strafe zu stellen.
Gemeinsam mit anderen Grünen-Politikerinnen habe ich dafür
gekämpft, das sofort rückgängig zu machen – damals galten wir damit
als „spießige Mütter“. Aber innerhalb weniger Wochen gab es einen
Sonderparteitag – und das Ding war vom Tisch. Ich frage mich: Die
70er Jahre waren eine der liberalsten Zeiten in einer funktionierenden
Demokratie. Wieso war ein solch offener Umgang mit diesem Thema
nicht möglich in einer Eliteschule, in die hochgebildete und gut
vernetzte Eltern ihre Kinder schickten? Ich führe die heftige Reaktion
heute auch darauf zurück, dass manche nun ein schlechtes Gewissen
haben, weil sie damals nicht handelten. Das sind immer späte und
billige Siege. Zur rechten Zeit hätte es mehr geholfen.
Warum schaden gegenseitige Schuldzuweisungen?
Alte Grabenkämpfe führen zur Bigotterie, nicht zur Selbsterkenntnis.
In Wahrheit haben wir den Grund des Übels noch nicht angeschaut:
Es gibt überhaupt keinen gesellschaftlichen Raum, der vor
Missbrauch sicher ist. Ich fürchte vielmehr, dass es solche Übergriffe
in jeder Schule, in jedem Gymnasium gegeben hat. Jeder Experte
weiß darüber hinaus, dass Missbrauch am häufigsten innerhalb enger
familiärer Beziehungen vorkommt. Das heißt, das Weggucken ist
allgemein. Mich stört an dieser Debatte etwas: Die meisten Menschen
haben doch in ihrem eigenen Leben die Früchte der Säkularisierung
und der Libertinage gerne genossen. In dem Moment, wo
Fehlentwicklungen beklagt werden, sucht und findet man einen
Schuldigen, der nicht man selbst ist. Wenn eine Gesellschaft
Liberalisierung will, kann sie nicht gleichzeitig nach alten Autoritäten
zur Schuldentlastung rufen. Dann muss sich jeder Einzelne
verantwortlich fühlen, neu die Grenzen zu definieren, die weiterhin
gelten sollen.
Wie unterscheiden sich die nun diskutierten Fälle vom Schicksal der
Heimkinder, das Sie aufarbeiten?
Die Opfer in den Kinderheimen hatten – anders als etwa die in der
Odenwaldschule oder dem Canisius-Kolleg – wirklich keinen
Fürsprecher. Es gab einen stillen Konsens einer gesamten
Erwachsenengeneration, die sich selbst in der Nachkriegszeit
traumatisiert fühlte, zu diesem Gewaltregime. Der autoritäre Zeitgeist
war der Meinung, diese Kinder aus der Unterschicht müssten nicht als
Individuen, sondern als „problematisches Kollektiv“ durch strengste
Zucht auf Linie gebracht werden. Übrigens bedrückt es mich, dass
das große öffentliche Interesse erst in dem Moment einsetzt, wo es
um das Schicksal von Elitekindern geht. Für das Schicksal der
Unterschichtenkinder aus den Heimen haben sich nur wenige
interessiert.
Die Regierung hat einen Runden Tisch gegen Missbrauch
eingerichtet. Sollten daran auch die Betroffenen teilnehmen?
Ich bin zur ersten Sitzung Ende April eingeladen. Grundsätzlich finde
ich es problematisch, dass der neue Runde Tisch in weniger als einem
Jahr schon Lösungsvorschläge, und das ohne Betroffene, machen
will. Da kann die neue Institution von unseren Vorarbeiten am Runden
Tisch Heimerziehung profitieren. Nach meiner Erfahrung muss man
sich Zeit lassen, wenn man im Konsens mit den Betroffenen einen
Weg sucht. Im Gespräch ist bei uns ein „Fonds für Traumatisierte“.
Die Politik muss denjenigen helfen, die durch entsetzliche
Erfahrungen in ihrer Kindheit für ihr ganzes Leben traumatisiert
wurden. Wir müssen ihnen helfen, soweit das überhaupt möglich ist,
ihre Traumata zu bearbeiten oder zu heilen. Ein solcher Fonds wäre
auch ein Instrument zur Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs.
POLITIKERIN DER GRÜNEN
Antje Vollmer hat viel dazu beigetragen, die Grünen politikfähig zu
machen. Als erste Vertreterin der Ex- Protestpartei wurde sie 1994
Vizepräsidentin des Bundestages. Den Posten behielt sie bis zu ihrem
Ausscheiden aus dem Parlament vor fünf Jahren.
DENKERIN GEGEN DEN STROM
Die evangelische Theologin sucht gern Mittel, eingefahrene Konflikte
aufzubrechen. Vor Zumutungen ans eigene Lager schreckt sie nicht
zurück. So trat sie vor Vertriebenen auf, um sie für eine Versöhnung
mit Tschechien zu gewinnen.
HÜTERIN DER HEIMKINDER
Als Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung bemüht sich die
66-jährige Publizistin darum, den Opfern solcher Einrichtungen in den
50er und 60er Jahren späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der
Heimkinder- Tisch wurde im vergangenen Frühjahr von der
Bundesregierung eingesetzt.
© 2013 Dr. Antje
Vollmer