Bundestagsrede zur Stammzellen-Debatte
(30.01.2002)
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 214. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den
30. Januar
2002 (Auszug aus dem Stenographischen Bericht)
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Vorfeld dieser Debatte ist sehr viel vor Fundamentalismus und
moralischem Rigorismus gewarnt worden. Ich bin sehr froh darüber,
dass es diese fundamentalistischen Stimmen, die Hitzigkeit
apokalyptischer Gefahrenbeschwörungen in dieser Debatte nicht
gegeben hat. Das gibt dieser Debatte eine gewisse Ruhe, aber es gibt
ihr auch eine große Qualität, gewährleistet letztlich die Freiheit der
Entscheidung. Das spricht für dieses Parlament.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)
Ich möchte deswegen über zwei andere Begriffe sprechen, nämlich
über Aufklärung und über Freiheit. Es ist das Recht dieses
Parlaments, von denen, die besonders betroffen sind und die
besonders große Anforderungen an uns gestellt haben, nämlich von
den Wissenschaftlern, zu verlangen, sich ebenfalls einer Debatte der
Aufklärung zu stellen. Ich habe manchmal den Eindruck, als ob es im
Kern des wissenschaftlichen Wollens so etwas gibt wie einen
unaufgeklärten Rest, eine Zone, über die man nicht diskutiert und
über die man sich keine Klarheit verschafft. Ich sage das auch
deshalb, weil ich selber lange Zeit auf einer Station der
Spitzenmedizin gearbeitet habe.
Der Punkt, der mir unaufgeklärt erscheint, ist der des Mehr bei der
Forschung an embryonalen Stammzellen gegenüber der Forschung
an adulten Stammzellen. In Bezug auf die Forschung an adulten
Stammzellen gibt es bis heute keine feststellbare Grenze. Wenn es
keine feststellbare Grenze gibt, besteht meines Erachtens kein Grund,
darüber hinauszugehen und zu sagen, dass man unbedingt
embryonale Stammzellen braucht, jedenfalls nicht, ohne Auskunft
über das qualitative Mehr der embryonalen Stammzellen zu geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
SPD, der CDU/CSU und der PDS)
Mir kommt es manchmal so vor, als ob das - ich will diesen Eindruck
mit einfachen Worten wiedergeben - ein magisches Mehr ist, als ob es
darum geht, an die Grundsubstanz der Schöpfung heranzukommen,
der man dieses Mehr zutraut. Da, finde ich, kann man
Wissenschaftlern zumuten, den mühseligeren Weg zu gehen, an den
adulten Stammzellen das zu erforschen, was sie noch nicht
ausgeforscht haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD
und der PDS)
Eine Aufklärungsdebatte müssen wir, finde ich, angesichts der
Möglichkeiten der Moderne auch über unsere eigenen Wünsche nach
Heilung, aber auch über die Grenzen von Heilungsmöglichkeiten
führen. Viele Debatten in der modernen Medizin haben damit zu tun.
Aufklären müssen wir uns auch über das, was dem Staat erlaubt ist.
Wir haben in der Debatte über die Organtransplantation zum ersten
Mal einen kleinen Raum des Noch-Lebens vom Schutz des Staates
freigestellt. Wir sind jetzt dabei, einen solchen freien Raum am
anderen Ende des Lebens, am Anfang, zuzulassen. Wie weit dürfen
wir noch gehen? Das ist die Frage, die uns allen gestellt wird und zu
der wir selbst einen Präzedenzfall geschaffen haben.
Ich will aber auch über die Freiheit reden. Wir brauchen und wir haben
heute die Freiheit der Wahl. Alle die haben nicht Recht, die heute vor
allem von den Gesetzen des nationalen Wissenschaftsraums
Deutschland gesprochen haben. In der globalisierten Welt gibt es
diese nationale Sphäre des wissenschaftlichen Forschens nicht mehr.
Aber rund um uns herum, in den USA, in Großbritannien, an vielen
Orten, existiert diese Forschung an den embryonalen Stammzellen.
Welches Signal bedeutete es, wenn von einem Land wie unserem, das
ebenfalls Spitzenforschung betreibt, gesagt würde: "Wir wollen heute
vor allem an adulten Stammzellen forschen."? Es ist - ich glaube, vom
Herrn Bundeskanzler - gesagt worden, es werde einen Export von
Wissenschaftlern geben.
Ich meine dagegen: Eine solche Entscheidung dieses Hauses stellte
eine riesengroße Einladung an die Wissenschaftler dar, die an den
adulten Stammzellen forschen wollen. Ich bitte Sie alle, diesen
Wissenschaftlern, aber auch uns selbst diesen Raum der Freiheit zu
geben.
Wir können wählen. Im Wissen der Menschheit ist verankert, dass es
stets genügend Möglichkeiten gab, den jeweils anderen Weg zu
gehen. Es gibt aber auch die Erfahrung, dass ein Weg gelegentlich in
eine Sackgasse führt.
Wir können heute noch Nein sagen. Bitte unterstützen Sie das und
ermöglichen Sie so eine Alternative.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD
und der PDS)
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Vollmer