Vor 25 Jahren waren wir das „glücklichste Volk der Welt“. Ein geeintes Europa
lag wie ein einziges Glücksversprechen vor uns. Die ganze Welt schien in eine
friedlichere Epoche unter der Führung einer gestärkten UNO hinüberzugleiten,
multipolar geordnet, mit wachsender Attraktivität von Demokratie,
Rechtstaatlichkeit und Toleranz. Das war der Traum einer ganzen Generation.
Es kam anders – und das lag nicht nur an den Ereignissen des 11.September
2001. Es lag auch am Triumphalismus, mit dem der Westen den ideologischen
Sieg im Kalten Krieg über den früheren Gegner, die Sowjetunion, auskostete.
Die Lehren aus dem Misslingen des Versailler Vertrages blieben
unberücksichtigt. An einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu arbeiten,
die auch den Unterlegenen in diese Ordnung mit einbezieht, schien überholt,
irrelevant. Dabei geriet dann auch das gesamte diplomatische Wissen aus der
Zeit der Ost-, Entspannungs- und Abrüstungspolitik in Vergessenheit - als
gäbe es kein Morgen mehr.
Die OSZE, einstmals geschaffen als Instrument für eine gesamteuropäische
Friedenspolitik, blieb weitgehend ohne Auftrag. Die Abrüstungsangebote noch
aus der Zeit von Michail Gorbatschow wurden nicht beantwortet. Der NATO-
Russland-Rat – eigentlich als Besänftigungsmaßnahme gedacht nach dem
Beitritt immer neuer östlicher Staaten in die NATO - dümpelte vor sich hin. Als
die Nationalitäten-Konflikte auf dem Balkan eskalierten und der russische
Außenminister Primakow 1998 seinen möglicherweise deeskalierenden
Einfluss auf Belgrad ins Spiel brachte, zeigte man ihm die kalte Schulter.
Putins Rede im Bundestag 2001, sein Auftritt auf der Münchener
Sicherheitskonferenz 2007, als er gegen den an die Grenzen Russlands
ausgedehnten NATO-Raketenschild protestierte, seine Warnung bei der
einseitigen Unabhängigskeitserklärung des Kosovo 2008, das könne eine
Büchse der Pandora auch für andere europäische Nationalitätenkonflikte
öffnen – alles wurde behandelt wie Wünsche, die in den Wind geblasen
werden. Selbst der Petersburger Dialog, eingerichtet für eine
zivilgesellschaftliche Verständigungsarbeit, wurde zum Forum für Streithansel
und Besserwisserei.
Wie konnte es dazu kommen? Was machte den Westen eigentlich so
leichtfertig?
Entscheidend dafür war eine Mischung aus Geschichtsvergesssenheit,
mangelnder sozialer Verantwortung für die Verlierer der historischen
Umwälzungen und einem erschreckenden Narzismus der neuen Eliten in Ost
und West.
Dabei waren die 90er Jahre noch überwiegend geprägt von den Erfahrungen
einer Generation von Politikern, denen der verlorene Krieg, das Bewusstsein
der deutschen Schuld und das Bemühen tief eingebrannt war, überhaupt
wieder einen geachteten Platz in der großen Völkerfamilie zu erringen – dafür
standen die Namen Brandt, Kohl, Schmidt, Genscher, Bahr, Weizsäcker,
Eppler, sogar Schröder. Mit der Jahrtausendwende aber kam eine andere
Politikergeneration an die Macht, die die eigene Demokratisierung als
gelungen voraussetzte und die neue Rolle Deutschlands als Leuchtturm des
Westens selbstbewusst auszufüllen gedachte - mit einem Platz im
Weltsicherheitsrat, als Lehrmeister einer gelungenen Geschichtsbewältigung
und mit forschen, anti-totalitären Auftritten, wo immer sich weltweit noch
eine Diktatur östlicher Prägung ausmachen ließ – dafür stehen Fischer,
Merkel, Gauck, von der Leyen, ein Teil der ehemaligen Bürgerrechtler und alle
heutigen Leitmedien der Bundesrepublik.
Was dabei völlig auf der Strecke blieb, war eine Empathie mit der objektiv
schwierigen Lage der Verlierer der großen Umwälzungen. Große Teile des
Kontinents hatten ja nicht nur die Turbulenzen des Zusammenbruchs der SU
zu bewältigen, sondern gleichzeitig die Globalisierung unter der Ägide
neoliberaler Think-Tanks, die ungebremsten Expansion der ungeregelten
Finanzmärkte und die Digitalisierung. Umfassende Entwertung erworbener
beruflicher und sozialer Sicherheiten und extreme existentielle Unsicherheiten
waren die Folge. Ganze soziale Schichten, insbesondere in Russland, aber
auch in den ehemaligen Ostblockstaaten und in den südlichen Ländern
Europas hatten mit steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden
Lebenserwartungen, Auswanderung der jungen Generation und hoher
Staatsverschuldung zu kämpfen. Als Medienthema wurden sie nur beachtet,
wenn sie politisch nach rechts abdrifteten.
Umso mehr feiern die neuen politischen, medialen und kulturellen Eliten
Europas ihre Erfolge, diesmal in beachtlicher Ost-West-Gemeinsamkeit. Eine
Oberschicht von kaum 10% der Bevölkerung bestimmt monokulturell die
Politik, die nun global agierende Wirtschaft und die Medien, sie repräsentiert
den Sieger des Kalten Krieges und des moralischen Triumphes in der
Systemkonkurrenz. Ihre Mitglieder haben teils atemberaubende Karrieren
hingelegt und so exorbitante Oligarchen- und Spekulanten-Vermögen
angehäuft, wie sie in so kurzer Zeit niemals zuvor möglich waren. Der
Sozialismus ist besiegt, und damit aus ihrer Sicht auch der Kern aller sozialen
Fragen. Der Rest gilt ihnen als Glück des Tüchtigen und als Lohn der
Wagemutigen. Diese neuen Eliten haben kein schlechtes Gewissen, sie
verstehen sich ja als moralisch überlegen – waren sie zur Zeit des Kalten
Krieges noch Menschenrechts-Pazifisten, verwandeln sie sich zunehmend in
Menschenrechts-Bellizisten. Ihre persönlichen Lehren aus der Zeit der großen
Wende bringen sie anderen Kulturen mit Nachdruck bei, sie „mahnen“,
„warnen“, „fordern ein“ - schicken allerdings meist fremder Völker Kinder in
die Schlacht, wenn es blutig wird. Manche, die vor 1989 noch gezögert
hatten, sind jetzt doppelt mutig im weltweiten Kampf für Freiheit und
Demokratie nach westlichem Muster.
Dabei wurde aus der Sicht der Gewinner manche historische Wahrheit erst
leicht, dann immer dreister umgedeutet: Die friedliche Revolution von 89 war
nur noch ausschließlich den Bürgerrechtlern zu verdanken, die mit ihren
Kerzen auf die Straße gegangen waren – und einem amerikanischen
Präsidenten, der gefordert hatte „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“
Dass dieser Mr. Gorbatschow seine Soldaten – aus eigener Einsicht - in den
Kasernen gelassen und dadurch überhaupt die Revolution zu einer friedlichen
gemacht hatte, geriet ebenso in Vergessenheit wie der Beitrag von unzähligen
, meist namenlos gebliebenen Reformern in den Partei- und Staatsgremien
der Endzeit der Sowjetunion, die ihrerseits wiederum auf Jahrzehnte einer
Ost- und Entspannungspolitik reagiert hatten, von der sie auch im Fall eines
friedlichen Wandels Respekt und Fairness erwarteten. Diese Reform- und
Entspannungspolitik aber geriet jetzt selbst zunehmend in Misskredit. The
Winner takes it all - ihm allein gehört die Deutung der Geschichte.
Gorbatschow gilt heute in Russland als der Politiker, der den zweiten Weltkrieg
zeitversetzt doch noch verloren und damit alles verspielt hat. Aber seine
Vision vom „Gemeinsamen Haus Europa“ war nur die Antwort auf einen
Traum, der vor ihm im Westen, besonders intensiv in Deutschland, geträumt
worden war. Doch neben diesen Träumen gab es immer auch eine westliche
Real- und Interessenpolitik mit anderen Zielen und anderen Methoden. Diese
existierte schon vor 1989 und auch vor dem 9.September 2001, sie wurde
von beiden Ereignissen aber zusätzlich in ihrem revolutionären Elan gestärkt.
Sie gewann viele Neu-Überzeugte und betrieb vorrangig Politik von Eliten für
Eliten.
Diese Epoche, die sich selbst als Aufbruchszeit und goldene Ära der „bunten
Revolutionen“ oder der „demokratischen Frühlinge“ verstand, brachte in der
Realität wachsende Kriegsbereitschaft, kaum noch zu zügelnde Finanzmärkte,
die politische Destabilisierung ganzer Weltregionen und kulturelle Arroganz.
Jetzt aber scheint sie an ihre Grenzen zu geraten. Ihre Bilanz ist alarmierend.
Der Rausch ist vorbei. Eine neue Entspannungspolitik zwischen Europa und
Russland, zwischen Amerika und China, zwischen dem Westen und dem Islam
ist heute notweniger denn je.
Antje Vollmer, 10.10.2014
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Vollmer
Das gemeinsame Haus Europa –
eine bittere Bilanz.