Als im Oktober neben vielen anderen Gesprächskontakten auch der Petersburger Dialog abgesagt
wurde, entstand bei einem privaten Treffen in München die Idee eines Aufrufs zur Deeskalation des
Verhältnisses zu Russland . Antje Vollmer ist eine der drei Initiatoren
Frau Vollmer, was war der Anlass für den Aufruf?
Wir hatten den Eindruck, dass sich zwar schon viele Einzelpersonen – Henry Kissinger, Helmut Kohl
Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt – besorgt geäußert haben, dass es aber gut wäre, die
warnenden Stimmen einmal zu bündeln. Uns trieb die Sorge, dass die Behandlung des Konflikts
Russland/Europa wegen der Ukraine in eine eskalierende Richtung läuft, teils emotional-medial und
teils in der Realität der Sanktionen. Wir wollten versuchen, eine neue Methode der politischen
Lösung des Konflikts anzustoßen. Bei den Unterzeichnern sind Leute zusammengekommen, die
früher oft gegeneinander standen: Politiker aus der Zeit, als mit Gorbatschow verhandelt wurde,
Repräsentanten der Entspannungspolitik der 70er Jahre, Vertreter aus der Friedensbewegung und
auch Teile der Bürgerrechtler aus Ost und West. Wir hofften, mit Menschen aus so verschiedenen
Spektren könnten wir eine andere Haltung in die Auseinandersetzung bringen.
Es ist ja nicht nur ein Aufruf der 60, sondern auch einer der über 60-jährigen. Ist dieser Konflikt auch
einer zwischen Generationen?
So ist das verstanden worden, der Grund war aber ein ganz anderer. Wir wollten bewusst keinen
aktiven Politiker dabei haben. Aus zwei Gründen: Es sollte nicht zuviel aktueller Druck auf einzelne
Personen entstehen, deren Parteien in die aktuellen Zwänge eingebunden sind. Auch können
Personen mit großer politischer Erfahrung vielleicht leichter Abstand zur Hitze der Konfrontation
nehmen und fragen: Welche Wirkung hat die Politikmethode des letzten Jahres in Russland gehabt?
Hat sie zur Einsicht, zum Nachgeben geführt? Oder hat sie zu einer innerrussischen Entwicklung
geführt , die uns allen Sorge machen muss, nicht nur den Russen, sondern ganz Europa.
Aber ist es nicht auch so, dass die Generation der unter 50jährigen nicht mehr diese Sensibilität für
das besondere Verhältnis der Deutschen zu Russland hat?
Das stimmt ganz sicher. Es nehmen die Kriegserinnerungen ab, es nimmt die Erinnerung an den
lähmenden Stillstand aus der Zeit des Kalten Krieges ab, auf die die Entspannungspolitik antwortete.
Gleichzeitig werden die Glücksmomente aus der friedlichen Revolution überbewertet, indem man
sagt, wenn da die Leute auf die Straße gehen und wir unterstützen sie mit unseren Medien, dann
werden wir doch einen friedlichen, demokratischen Regimewechsel bald überall hinkriegen! Wie
kann das irgendjemandem in Europa verwehren? Da mahnen wir ein bisschen zur Vorsicht. Die Bilanz
dieser hoffnungsvollen Umbrüche ist nicht überall überzeugend, ganze Gesellschaften und
Landstriche sind dabei ins Chaos und in grosse existentielle Unsicherheiten gestürzt. Auch sollte die
Zeitenwende von 1989/90 gerechter bewertet werden: als ein Ereignis, an dem viele aus vielen
verschiedenen Motiven mitgewirkt haben. Nicht nur der Mut auf der Straße, auch die
Entspannungspolitik gehört zur Vorgeschichte. Es hätte in Moskau nie eine prowestliche Entwicklung
ohne diese Politik gegeben, und auch keinen Verzicht auf das gewaltsame Niederschlagen des
Umsturzes
Kritiker des Aufrufs monieren, dass die Ukrainer als Opfer und Spielball des Konflikts zwischen
Russland und der EU kaum zur Sprache kommen, und dass Sie die Entwicklung in Russland zu
unkritisch sähen.
Das ist falsch, wir sind nur realpolitischer als unsere Kritiker. Wir kennen und teilen viele aktuelle
Analysen. Aber nehmen wir einmal an, die Kritiker Russlands hätten zu hundert Prozent recht,
trotzdem bleibt die Frage: Wie kommen wir aus der Sackgasse? Wir bezweifeln ja nicht die Fakten,
wir bezweifeln die Methode, das Problem anzugehen. Wenn man auf eine Konfrontation zusteuert
und reagiert mit einer eher konfrontativen Methode, muss man doch nach einer gewissen Zeit die
Wirkung überprüfen: Hat das unsere Chancen, unsere Überzeugung durchzusetzen, vergrößert oder
verringert? Ich sehe aber nur Verhärtungen zwischen dem Westen und Russland, zwischen Russen
und Ukrainern - und auch in Russland selbst. Dann muss man doch die Methode überdenken. Das ist
der eigentliche Anlass dieses Aufrufs.
Was schlagen Sie vor?
Ob es uns passt oder nicht -wir müssen den Schlüssel in Moskau suchen. Das ist für mich ja nicht das
erste Mal, dass ich das so eine unübliche politische Intervention versuche. Als ich den Dialog mit den
RAF-Terroristen begonnen habe, gab es auch keinen Zweifel, dass die gemordet haben. Aber ich habe
gesagt: Man muss den Schlüssel in deren Köpfen im Gefängnis suchen – und zugleich im Krisenstab in
Bonn. Oder als es 1994 mit der deutsch-tschechischen Verständigung nicht voran ging, war klar: Man
musste den Schlüssel in München und auf den Vertriebenentreffen finden, sonst wären wir nie mit
den Tschechen zu einem Konsens gekommen. Man muß immer an die Stelle gehen, wo es weh tut
jedenfalls bei traumatischen Konflikten. Ich vertrete generell eine dialogische Politikmethode. Das
dritte Beispiel: 1968, der Einmarsch der Sowjets in Prag. Damals hat der Westen nicht mit Sanktionen
geantwortet , sondern es wurde die Entspannungspolitik von Brandt und Bahr zur Regierungspolitik.
Was sollte die Bundesregierung jetzt tun?
Ich hätte mir gewünscht, Angela Merkel hätte weniger telefoniert und wäre zusammen mit Frank-
Walter Steinmeier sofort nach Beginn der Krise in Moskau gewesen und sie hätten so lange mit den
Russen verhandelt, bis man einen gangbaren Weg gefunden hätte. So hat man in der Vergangenheit
diplomatische Konflikte gelöst. Das wäre auch im Sinne der Ukraine die beste Hilfe gewesen, die wir
ihnen geben können. Stattdessen sind Signale an die Ukraine gegangen, die moralisch immer
verständlich waren, in der Auswirkung aber nicht verantwortlich.
Zum Beispiel?
Das Versprechen mancher Besucher auf dem Maidan, Europa würde auf jeden Fall helfen: nicht nur
politisch, sondern auch umfassend finanziell, medial, womöglich mit schnellen Beitrittsperspektiven
zu EU und Nato.
Aber was erwarten sie jetzt von der deutschen Regierung, an die ihr Appell ja gerichtet ist?
Es muss ein Konzept geben, einen Plan, wie man aus der rhetorischen und der realen Zuspitzung
Schritt für Schritt wieder in ein Gespräch kommt, ein neues Konzept gemeinsamer Sicherheit in
Europa. Dabei müssen die Polen, die Balten, die Ukrainer selbstverständlich einbezogen werden,
aber der Anstoß könnte aus Deutschland kommen. Früher war die Hauptrolle der Bundesrepublik, in
europäischen Konflikten auszugleichen, das hat mit unserer Geschichte und unserer Lage in der Mitte
des Kontinents zu tun. Heute habe ich den Eindruck, wir sind eher der Riegenführer der EU mit viel
schwarzer Pädagogik und beachten zu wenig, dass sich an den Außengrenzen die Spannungen
verschärfen.
Aber Steinmeier arbeitet doch unermüdlich daran, einen Weg zu finden?
Ich habe den höchsten Respekt vor seinem Einsatz. Aber ich habe auch den Eindruck, dass sich in der
Regierungskoalition und in den Medien der Druck verschärft: Keiner darf aus der Reihe tanzen! Wir
müssen unsere Reihen eisern schließen! Das schafft Schlachtordnungen und Ängste. Gegen diese
Ängste wollte der Aufruf ermutigen, wieder den freien Raum zu betreten: Auf dem Zwischenfeld
zwischen den Lagern, die sich immer mehr eingraben in ihre mentalen Schützengräben, gibt es eine
Menge Platz für Verständigungen und gegenseitige Signale. Eigentlich warten wir auch auf eine
Antwort aus der russischen Gesellschaft auf unseren Aufruf.
Was kann das für ein Signal sein?
Wir müssen auf allen Ebenen nicht weniger sondern sehr viel mehr miteinander reden. Der Krieg in
den Köpfen und die Feindbilder müssen entschärft werden. Das war einmal Gorbatschows Traum.
Der ist nicht nur daran gescheitert, dass er ihn in Russland nicht mehr durchsetzen konnte. Sondern
auch daran, dass ihn im Westen zu wenige mitgeträumt haben. Er bekam nie eine echte Chance.
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© 2014 Dr. Antje
Vollmer
„Wir müssen den Schlüssel in Moskau
suchen“ Interview von Holger Schmale