Interview zu RAF-Begnadigungen
Interview für Berliner Zeitung mit Holger Schmale und Jochen Arntz
Frage: Frau Vollmer, Deutschland erlebt zur Zeit eine heftige Debatte um
die Freilassung ehemaliger Terroristen wie Christian Klar und Brigitte
Mohnhaupt. Die Debatte führt zurück in die Zeit vor drei Jahrzehnten, in
den Deutschen Herbst des Jahres 1977. Damals sah sich der Staat im
Krieg mit den Terroristen der RAF. Wie haben Sie diese Zeit empfunden?
Antwort: Die Stimmung war ungeheuer aggressiv und aufgeladen. Es
wurde ja suggeriert, es gäbe tausende Kämpfer im Untergrund, eine
gewaltige, unübersehbare Zahl von Kombattanten, Helfern,
Sympathisanten. Die Größenverhältnisse wurden panikartig überzogen.
F: Damals konnte man den Eindruck haben, der deutsche Staat sei in
seinen Grundfesten erschüttert.
A: Ja, und ich glaube, das war zu dieser Zeit wirklich das Gefühl der
Regierenden. Ich habe später viele Einzelgespräche mit Mitgliedern des
Krisenstabs geführt. Jeder von denen fühlte sich sehr persönlich bedroht,
inklusive ihrer Familien. Die bekamen von anderen Eltern zu hören:
Nehmen Sie doch bitte Ihre Kinder aus dem Kindergarten, wir haben
Angst, auch bedroht zu werden. Hinzu kam ein Gefühl der Kränkung. Wir
hatten eine sozial-liberale Regierung, die eigentlich mehr Demokratie und
Reformen wagen wollte, einen Sozialdemokraten als Kanzler. Das
ausgerechnet die nun angegriffen wurden, empfanden sie als zusätzliche
politische Bosheit, als Verrat.
F: Es war viel von faschistoiden Kräften die Rede...
A:...ja, und zwar auf beiden Seiten. Beide Seiten sahen die jeweils andere
hinter faschistischen Masken. Politiker glaubten, da steige eine Gruppe
auf nach dem kulturrevolutionären Muster der Nazis, mit diesem
unglaublichen Hass, einer ungeheuren Aggressivität und Regellosigkeit.
Und die Terroristen, wähnten sich im Kampf mit den Resten des
deutschen Faschismus, der sich in der Staatsspitze festgesetzt hätte.
F: Wenige Jahre später haben Sie mit einem Brief an den RAF-
Gefangenen Christian Klar, der jetzt, wieder im Mittelpunkt der
Auseinandersetzung steht, eine heftige Kontroverse ausgelöst. Was war
Ihr Motiv?
A: Das war im Jahr 1984. Ich war Fraktionsvorsitzende der Grünen. Es
gab einen Hungerstreik der RAF-Gefangenen, und in unseren öffentlichen
Fraktionssitzungen tauchten ständig Gruppen auf, die sagten: Die werden
sterben, die Grünen müssen etwas tun. Stimmt, haben meine Kollegin
Christa Nickels und ich gesagt. Wir müssen die besuchen und sie
auffordern, mit diesem Hungerstreik Schluss zu machen, ihnen
vermitteln, dass wir etwas gegen die Haftbedingungen unternehmen
werden. Unser Brief sollte unseren Besuch im Gefängnis ankündigen.
F: Ist der Brief überhaupt angekommen?
A: Das weiß ich nicht, er wurde abgefangen. Wir kriegten keine Antwort
aus dem Gefängnis, der Hungerstreik wurde irgendwann abgebrochen.
Aber sechs oder acht Wochen später wurde der Brief dann in einem
Wahlkampf gezielt über die Medien veröffentlicht: "Grüne Spitzenpolitiker
suchen Nähe mit Terroristen". Das gab eine Riesenempörung.
F: Auch bei den Grünen...
A: Ja, es gab eine große Irritation. Diejenigen, die die Terroristen näher
kannten, sagten, es sei völlig sinnlos mit denen überhaupt reden zu
wollen. Otto Schily zum Beispiel erklärte, mit Leuten, die
Genickschussmethoden anwenden, suche man nicht ein höfliches
Gespräch unter Freunden. Es ging auch um die Frage, ob wir als führende
Leute in der Fraktion so etwas im Namen der Grünen machen durften.
Und an der Stelle haben wir gesagt: Das ist genau die richtige Initiative
für eine gewaltfreie Bewegung.
F: Hatten Sie denn auch Unterstützer?
A: Ja, es gab ein öffentliches Pro und Contra. Auf der einen Seite agierte
auch damals die Bild-Zeitung als Antreiber. Als wieder ein Attentat verübt
wurde, forderte Bild, wir sollten uns bei den Opfern entschuldigen, weil
wir mit den Terroristen kollaborieren würden. Andere aber haben gesagt –
z.B. Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer – die Initiative zum Gespräch ist
richtig, irgend etwas muss man doch versuchen, wir haben mit der rein
sicherheitsdienstlichen Verfolgung der RAF ja nichts erreicht. Man darf
nicht vergessen, damals wurden noch Attentate verübt. Die RAF
existierte, man hatte einige Gefangene, wusste aber nicht genau, wer und
wie viele im Untergrund waren.
F: Wenn Sie heute die Kampagne der Bild-Zeitung gegen die Entlassung
von Mohnhaupt und Klar sehen – ist das für Sie ein Deja-vu-Erlebnis?
A: Es ist ein Deja-vu-Erlebnis insofern, als die Bild-Zeitung offenbar den
Terrorismus gern nutzt, um Kampagnen zu starten. Kampagnen, die keine
Lösung bringen, sondern ihr geradezu im Wege stehen. Heute geht es
darum, Christian Klar länger im Gefängnis zu halten oder erst dann
freizulassen, wenn er seinen Entschuldigungsbrief direkt über die Bild-
Zeitung vermarktet.
F: Im Moment sieht es wohl so aus, dass Klar seine Begnadigung selbst
gefährdet, in dem er Erklärungen aus dem Gefängnis abgibt, "die
Niederlage der Pläne des Kapitals vollenden" zu wollen. Hat Sie dieses
jetzt bekannt gewordene Grußwort Christian Klars an eine Konferenz
radikaler Linker in Berlin überrascht?
A: Ja, es hat mich überrascht. Es hat mir auch gezeigt, daß er falsche
Freunde hat, die den Weg aus dem Gefängnis schwerer machen. Und es
hat mir bewiesen, wie wenig er im Gefängnis von der heutigen Welt
verstehen gelernt hat.
F: Das letzte Mal, das man Christian Klar hat so reden hören war in einem
Fernsehinterview, das er dem Journalisten Günter Gaus im Jahr 2001 im
Gefängnis gab. Und schon damals musste man sich doch die Frage
stellen, ob nicht viele Leute die RAF-Terroristen eine lange Zeit
intellektuell stark überschätzt haben?
A: Es gab starke Unterschiede zwischen den drei Generationen der RAF.
Die erste Generation um Ensslin, Baader und Ulrike Meinhof, das waren
absolute Spitzenintellektuelle. Sie kamen zum Teil aus besten Familien,
kannten die politischen und medialen Eliten von Hamburg und Berlin. Sie
konnten auch deshalb so eine große Faszination ausstrahlen. Die
Mitglieder der zweiten und dritten Generation waren im Wesentlichen
über moralischen Druck oder durch persönliche Liebesgeschichten zu
den Terroristen gestoßen. Auch die waren nicht als Mörder geboren. Das
Schlimme ist, je schwächer die Persönlichkeiten waren, je autoritärer
waren sie fixierbar in dem Sinne: Du darfst kein bürgerliches Leben
führen! Mit der zweiten Generation entwickelte sich die Gruppe
sektenartig, so motiviert wurden die brutalsten Taten verübt. Sie kamen
schließlich aus der Kollektiv-Maschine RAF nicht mehr heraus. Sie
konnten lange nicht für sich eine redliche intellektuelle Bilanz ziehen: Der
Weg der Gewalt war falsch, und ich muss jetzt Verantwortung dafür
übernehmen, daß er beendet wird.
F: Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit Christian Klar?
A: Klar ließ sich von keinem unserer Leute besuchen. Er wurde sehr stark
von seinem engeren Umfeld, von seiner Familie abgeschottet. Und in dem
Fernsehgespräch, das Günter Gaus mit ihm geführt hat, sieht man auch,
dass er von der langen Haft weitgehend gebrochen ist. Ich finde auch,
dass es ein Fehler von Günter Gaus war, dieses Gespräch zu führen und
zu senden. Das hat Gaus, glaube ich, hinterher selber so empfunden. Er
war nämlich der erste, der ein Gnadengesuch für Klar gestellt hat, wohl
doch ahnend, dass dieses Interview Christian Klar ein paar Haftjahre
mehr bescheren würde.
F: Das Gespräch hat ja damals für Aufsehen gesorgt, auch deshalb gibt
es ja nun die Befürchtung, dass die ehemaligen Terroristen, wenn sie frei
sind, erst einmal durch die Talkshows tingeln....
A: Das allerhöchste Klassenziel für einen ehemaligen Terroristen ist, dass
er Normalität zurückgewinnt. Er sollte kein Besonderer mehr sein,
sondern muß versuchen, ein ganz normales Leben zu führen. Das ist
schwer genug.
Ich würde allerdings eine Selbstverpflichtung der deutschen Medien sehr
begrüßen - von Sabine Christiansen, Johannes B. Kerner, Reinhold
Beckmann, der Bild-Zeitung und all den anderen - dass sie diese
gefürchtete "Star-Rolle" der ehemaligen Terroristen nicht selbst
produzieren wollen. Dieser gewinnträchtige Voyeurismus wäre so leicht
zu vermeiden.
F: Haben Sie eigentlich erwartet, dass eine Debatte über die Begnadigung
der letzten noch inhaftierten Terroristen eine solche Schärfe bekommen
würde, wie sie es heute hat?
A: Diese Gesellschaft ist nicht rachsüchtig, wenn man sie nicht medial
aufpeitscht. Aber vom Verlauf der Debatte bin ich nun doch irritiert. Ich
hatte gedacht, dass sich das Vernünftige durchsetzt: Dass, wenn eine
Gefahr vorbei ist, wenn die Leute ihre Haft abgesessen haben, wenn sie
länger gesessen haben als jeder andere, dass es dann auch wirklich
vorbei sein darf, weil auch die Gesellschaft ein gutes Ende liebt. Jetzt
aber gibt es offensichtlich das Bedürfnis nach der "großen Beichte". Wird
die nicht abgelegt, fordern Bild, Beckstein und Westerwelle noch einmal
ein paar Jahre mehr im Gefängnis. Das Rachebedürfnis ist etwas, wozu
man eine Gesellschaft aufpeitschen kann. Sie fühlt sich dann dem Bösen
überlegen.
F: Kann man andererseits nicht erwarten, dass die inhaftierten Terroristen
heute zur Aufklärung der Taten von damals beitragen?
A: Bei dieser Forderung wird nicht rechtstaatlich argumentiert. Wenn man
bei der Aufklärung kooperiert, ist man Kronzeuge und bekommt einen
Straferlass. Auf das alles haben diese Gefangenen ja verzichtet, sie haben
die Strafe für ihr Nicht-kooperieren bereits abgesessen, 24 Jahre Haft
sind bereits sieben Jahre länger als beim Durchschnitt der anderen
Lebenslänglichen.
F: Kinder der Opfer argumentieren, es würde ihren inneren Frieden
befördern, wenn sie wüssten, wer es war, der ihren Vater erschossen hat.
A: Das ist ein verständliches und legitimes Anliegen, aber es ist kein
entscheidendes für den Rechtsstaat in diesem Fall. Auch jeder andere
Täter hat das Recht, nicht gegen sich selbst auszusagen, die Tat muß ihm
vom Gericht bewiesen werden. Besonders bei so gravierenden Taten ist
es menschenunmöglich zwischen Opfern und Tätern jemals ein gerechtes
Urteil zu finden. Deswegen gibt es ja Richter, gibt es den Rechtsstaat als
dritte Instanz. Das vergisst man leicht in dieser Medien-Debatte, die den
Wunsch nach einem öffentlichen Palaver füttert, das dann das Strafmaß
festsetzt. Was soll dabei Gutes herauskommen?
F: Waren die Strafen für die Terroristen denn absurd hoch?
A: Insgesamt hat es für die Verbrechen der Terroristen, gemessen an der
Anzahl der Täter, eine Menge an Haftjahren gegeben. Wenn man das
misst an der Menge der Haftjahre, die für die NS-Verbrechen verhängt
wurden, dann ist das ein ungleiches Maß.
Ich halte besonders wenig von nachträglichen Siegen. Entscheidende
historische Auseinandersetzungen müssen in der gegenwärtigen Zeit-
Etappe geführt werden. Irrtümer, falsche Geschichtsbilder, Verbrechen,
muss man Widerstand bieten zu der Zeit, in der sie passieren. Wenn die
Auseinandersetzung entschieden ist, sogar erfolgreich, dann noch mal
und noch mal "nachzusiegen", das ist etwas, das ich ablehne. Dieses
Terrorismusproblem war in Deutschland doch eigentlich glücklich
beendet, auch Dank solcher frühen Dialoginitiativen, Dank der
Entlassungen. Auch Dank der Tatsache, dass der Staat am Ende dann
doch nicht übertrieben reagiert hat, obwohl er das anfangs versuchte.
Jetzt aber noch einmal bestätigt wissen zu wollen, von Gefangenen, die
doch schon mit langen Haftjahren gebüßt haben, wie sehr sie gefehlt
haben, sie noch einmal öffentlich auf den Knien zu sehen, ist ein
absurdes und inhumanes Bedürfnis.
Auf das RAF-Unternehmen, den deutschen Nationalsozialismus dreißig
Jahre nach seiner Niederlage noch einmal, und zwar mit Gewalt, besiegen
zu wollen, war so ein abwegiger Versuch von "Siegen" die zu spät
kommen.
F: Es gäbe ja für den Bundespräsidenten die Möglichkeit nicht nur
Christian Klar zu begnadigen sondern generell einen Schlussstrich unter
diese Geschichte zu ziehen. Wäre das klug?
A: Persönlich habe ich mir das gewünscht und fände auch richtig, wenn
diese ganze Zeit mit einem politischen Schlusswort des
Bundespräsidenten beendet würde. Es macht ja auch wenig Sinn, wenn
eine Birgit Hogefeld, die schon am ersten Tag ihres Prozesses zum
Gewaltverzicht aufgerufen hat, auch noch diese vielen Jahre absitzt.
F: In der Debatte steckt ja auch der Widerspruch, dass man einerseits
sagt, das sind ganz normale Gefangene und ihnen andererseits
Sonderbedingungen auferlegen will.
A: Ganz am Anfang stand die Erklärung der ersten Häftlinge: Wir sind
Kriegsgefangene! Es war eine der wesentlichen Richtigstellungen des
Rechtsstaates, zu sagen: Ihr habt kriminelle Taten begangen, ihr werdet
dafür individuell zur Verantwortung gezogen, es gibt keine Sonderrolle!
Das war auch eine Selbstbegrenzung des Staates, dass er nicht
überreagiert. Und nun sagt man ganz am Ende: Ihr wart doch etwas
Besonderes, und deshalb müsst ihr besonders lange in Haft sitzen. Die
Gesellschaft erfüllt so den Wunsch der ersten Gefangenen, als etwas
Einzigartiges behandelt zu werden. Das ist eine dieser Ironien der
Geschichte.
F: Das große Thema auch Ihrer Initiative war Versöhnung zwischen dem
Staat und den Terroristen. Das klingt aus heutiger Distanz ziemlich
abwegig, so, als sei es um zwei gleichberechtigte Streitparteien
gegangen, die sich da versöhnen sollen. Aber die einen waren doch eben
Kriminelle, wenn auch zumindest anfangs politisch motivierte.
A: Unser Motiv war, eine erfolgreiche, eine intelligente Lösung des
Terrorismusproblems zu suchen. Ich hatte große Zweifel, dass die immer
effektiver organisierten Verfolgungsmethoden ihr Ziel erreichen würden:
Erstens den Terrorismus zu beenden, zweitens den Zustrom von
Sympathisanten zu unterbinden und drittens diesen Mythos RAF den
Mythos der "schwarzen Rächer", zu brechen. Ich war überzeugt, dass wir
dafür einfach dichter an sie herankommen mußten. Wir mussten auch ein
aus Angst frei geräumtes Feld für die Gesellschaft wieder eröffnen. Meine
traumatischste Erinnerung an den Deutschen Herbst ist, dass sich die
Öffentlichkeit in zwei fest betonierte Lager aufteilte und das ganze
Mittelfeld zum Schußwechsel freigeräumt war. Ich dachte, es müssen
Einzelne dieses Mittelfeld betreten, die wissen, wie man andere
Reaktionen hervorruft, gerade auch auf Seiten der Terroristen.
F: Ist das gelungen?
A: Ja. Die Tatsache, dass wir solche Prügel bekommen hatten für unseren
Brief und unseren ernsthaften Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu
kommen, hat die RAF-Leute irritiert. Das galt auch für unseren Vorschlag
aus dem Jahr 1987, also zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst, einen
richtigen, formalen Dialog anzubieten. Da hatten wir nicht einfach die
üblichen Unterschriftenkartelle zusammengesucht, sondern ganz gezielt
Persönlichkeiten, von denen wir dachten, das muss die Gefangenen
einfach interessieren, sich mit denen intellektuell auseinanderzusetzen.
Da war der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger dabei, der Theologe
Ernst Käsemann, dessen Tochter in Argentinien ermordet worden war,
oder Alt-Bischof Kurt Scharf, der sich während der APO-Zeit immer für die
Demonstranten eingesetzt hatte.
F: Aber was hatte das mit Versöhnung zu tun?
A: Ich glaube gar nicht, daß der Begriff Versöhnung von uns benutzt
wurde. Der Begriff lag dann nahe, weil bis dahin deeskalierende Initiativen
nur von den Kirchen ausgegangen waren. Das war auch in Italien so, wo
die katholische Kirche eine wichtige Rolle gespielt hat und zum Beispiel
Angehörige der Opfer und der Täter der Roten Brigaden gemeinsam die
Messe besucht haben. Da habe ich begriffen, dass in solchen
komplizierten, traumatischen Auseinandersetzungen manchmal religiöse
Versöhnungsrituale den Leuten helfen, über eine Brücke zu gehen. Aber
eigentlich war das eine politische Initiative, eine, die am Gelingen
orientiert war.
F: Haben Sie in diesen langen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema
eigentlich jemals eine Erklärung dafür gefunden, was etwa einen
Bürgersohn wie Christian Klar überhaupt einst dazu brachte, bereitwillig
eine Waffe in die Hand zu nehmen?
A: Das Grundmuster von Terrorismus ist moralisch motivierter
Lebensbruch, also gegen alle Regeln zu verstoßen, mit denen man groß
geworden ist, um eine vermeintlich gerechte Mission zu erfüllen. Es ist
manchmal auch intellektueller Selbstmord.
F: Kann es in Deutschland auch etwas damit zu tun haben, dass diese
Leute in einer Zeit groß geworden sind, in der die allgemeine Verrohung
durch den Nationalsozialismus noch nicht allzu lange zurück lag?
A: Das ist schon eine interessante Verbindung, die mich auch beschäftigt
hat. Es geht ja nach solchen historischen Traumata darum, wieviel
Gewaltphantasien und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft
zurückbleiben, auf die man, bei allen Wünschen, sich davon zu
distanzieren, wieder zurückfällt. Ich habe mal mit einem Terroristen
gesprochen, dessen Deckname in der RAF "Horst" war, und der mir
erklärte, sein Onkel, der ein Nazi war, habe Horst geheißen. Da sieht man,
dass es zwanghafte Wiederholungen gab in den Phantasien. Solche
psychisch gewünschten Wiederholungen gab es auch in den RAF-
Aufrufen von Ulrike Meinhoff, wenn sie ihre Haftbedingungen wie eine KZ-
Haft beschrieben hat, was es ja doch nicht war. Was aber in der
deutschen Linken sehr wirkungsvoll agitierte.
F: Es gab ja dann die These, dass die zweite und dritte Generation der
RAF überwiegend ein Produkt des Staates war, weil sie Zulauf vor allem
als Reaktion auf die Haftbedingungen in den Hochsicherheitstrakten
erhielt.
A: Die Empörung über diese Haftbedingungen war für viele tatsächlich
ein Motiv. Aber genau so entscheidend waren die Gruppendynamiken, in
denen sie oft zufällig steckten. Vor allem die Gefängnisbesuchergruppen
haben einen unheimlichen moralischen Druck ausgeübt: Du willst ein
kleinbürgerliches Leben führen, während die Genossen in der Haft
gefoltert werden? Wie kannst Du das rechtfertigen? Das hat bei vielen
bewirkt, dass sie mehr getan haben, als sie von sich aus eigentlich tun
wollten. Ursache war also nicht nur staatliche Überreaktion, da war auch
dieses Polit-Sekten-Milieu.
F: Hatten Sie mit dieser Szene zu tun?
A: Oh ja. Die hat unseren Dialogversuch schwer bekämpft: Wir wurden als
"Staatsschutzlinke" beschimpft, die die Identität der "wahren
Revolutionäre" brechen wollten. Wir wurden draußen gehalten, damit wir
nicht die Psyche der Gefangenen beeinflussen konnten und die
womöglich zu einer Reflexion ihrer Taten kämen. Diese Szene wollte die
Gefangenen nötigen, zu den revolutionären Reinheitsidealen einer
vergangenen Zeit zu stehen, anstatt eine ehrliche Bilanz zu ziehen und
sich neue Lebensperspektiven aufzubauen. Das habe ich immer
verachtet, für die eigenen Ideale andere Leute ins Feuer zu schicken.
Viele von diesen Ratgebern sind in ihrem eigenen persönlichen Leben
jede Menge Kompromisse mit dem "System" eingegangen, wollten aber
weiter solche aufrechten Helden haben, die bis heute zeigen, dass es
richtig ist, für die Revolution ins Gefängnis oder in den Tod zu gehen.
F: Wie kommt es, dass damals die Situation der Täter so stark im
Vordergrund stand und das Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen, ganz
anders als heute, in der Debatte überhaupt keine Rolle spielte?
A: Ja, das ist interessant. Als es 1997 in Stuttgart eine Erinnerungsfeier
für den ermordeten Hanns-Martin Schleyer gab, bin ich hingefahren,
übrigens auch Felix Ensslin, der Sohn von Gudrun Ensslin. Aber Politiker
waren kaum gekommen. Es hätte also schon nach zehn und nach
zwanzig Jahren Gelegenheiten gegeben, der Opfer zu gedenken, wie jetzt
so lautstark gefordert wird. Aber es gab einen merkwürdigen Abstand
zwischen den Politikern und den Opferfamilien. Ich glaube, es war den
Politikern unangenehm, daran erinnert zu werden, dass sie einmal mit
entscheiden mussten, einem Austausch der Geisel Schleyer gegen die
RAF-Gefangenen nicht zuzustimmen, dass sie sich schuldig gefühlt
haben gegenüber den Angehörigen. So fühlten sich die Familien im Stich
gelassen von den Politikern, die ihnen auswichen. Aber auch von einer
Gesellschaft, von der sie kein Mitgefühl erfuhren und in der sie nicht in
einer Atmosphäre des Mittrauerns aufgefangen wurden.
F: Aber die Familien haben doch unterschiedlich reagiert?
A: Ja, am vehementesten haben sich die Hinterbliebenen des von der
RAF ermordeten Diplomaten Gerold von Braunmühl gewehrt. 1986 –
unmittelbar nach der Erschießung ihres Vaters und Bruders – haben sie
in einem offenen Brief an die RAF gefordert: Erklärt, was Ihr da getan
habt! Wie konntet ihr ausgerechnet einen der liberalsten Außenpolitiker
ermorden, der für dieses Land noch so wichtig hätte sein können – ganz
abgesehen davon, wie sehr wir ihn geliebt haben. Dadurch entstand zum
ersten Mal eine öffentliche Debatte um die Opfer und ihre Angehörigen.
F: Wenn man mit jüngeren Leuten über das Thema deutscher Terrorismus
spricht, dann ist das für die sehr fremd, sehr weit weg. Muss sie das
eigentlich interessieren? Anders gefragt, ist heute ein gesellschaftlicher
Dialog über diese Zeit noch überfällig oder eher überflüssig?
A: Es hat ja Debatten über Verbrechen, Fehler und Irrtümer dieser Zeit
© 2015 Dr. Antje
Vollmer