Dr. Antje Vollmer:
Laudatio auf Pater Klaus Mertes zur Verleihung der
Ferdinand-Tönnies-Medaille der Christian-Albrechts-
Universität
Kiel, 8.April 2013
Bevor ich zu unserem Preisträger komme, möchte ich Sie und die Juroren, die
diese Auswahl getroffen haben, sehr herzlich beglückwünschen. Denn Sie
haben einen mutigen, klugen, nachdenklichen und meinungsstarken
Preisträger ausgewählt.
Sie haben auch einen ausgewählt, bei dem zwar jeder gleich aufmerksam
wird, wenn sein Name fällt, bei dem aber ganz sicher nicht jeder gleich
applaudieren wird.
Mit einem Wort: Sie haben einen durchaus umstrittenen Preisträger
ausgewählt – und das ist in unserer stark monokulturellen, politisch-korrekten
und gleichzeitig populistisch ausgerichteten öffentlichen Meinung schon etwas
Besonderes.
Ich würde noch weiter gehen: Sie haben mit diesem Theologen, Pädagogen
und streitbaren Jesuiten einen Preisträger ausgewählt, bei dem vielleicht
sogar die, die ihn bewundern und loben, nicht immer ganz genau wissen, wen
sie da eigentlich vor sich haben: einen Menschen mit einem Geheimnis, bei
dem nicht auf den ersten Zugriff immer gleich klar ist, warum er so handelt,
wie er handelt, was ihn treibt, was er mit all seinen Anstößen und
Aufklärungen bezweckt , die soviel Unruhe gerade auch in seinem wichtigsten
Umfeld, der katholischen Kirche, geschaffen haben.
I.
Viele Ehrungen und Preise hat Klaus Mertes noch nicht bekommen, aber
doch einen sehr wichtigen: den Gustav-Heinemann-Preis. Bei dieser
Preisverleihung im April 2012 kam es zu den üblichen Turbulenzen und
Missverständnissen um seine Person:
Erst wurde schon im Vorfeld bemängelt, daß Pater Klaus Mertes diesen Preis,
der für vorbildliches Bürgerengagement und Zivilcourage verliehen wird,
überhaupt und dann auch noch allein bekommt – eigentlich stehe so ein Preis
doch den Opfern zu, die zuerst an ihn herangetreten seien, um den Skandal
des Mißbrauchs durch Patres und Lehrkräfte am Canisius-Kolleg in Berlin
offenzulegen.
Dann wurde erklärend nachgeschoben, der Preis sei eben stellvertretend für
alle an diesem Prozess Beteiligten gedacht und damit nur symbolisch für den
einen Preisträger, der ihn jetzt überreicht bekomme.
Und schließlich, als Klaus Mertes in diesem gut sozialdemokratischen Willy-
Brandt- Haus – ich saß damals im Saal, von kirchlicher Seite waren wenige
Vertreter zu sehen – den Preis erhielt und aus diesem Anlaß eine seiner
leidenschaftlichen , meist freien Reden hielt, hörte ich jemanden hinter mir
ganz deutlich flüstern: „Der ist doch auch schon mit einem Bein aus seiner
Kirche ausgetreten.“
Das ist nun aber ein großer Irrtum. Nichts könnte falscher sein als diese
Hypothese. Darum sei hier ganz am Anfang festgehalten: Zwar stimmt es,
dass schon lange kein einzelner Theologe einen solchen Aufruhr, eine solche
Verunsicherung in der katholichen Kirche hervorgerufen hat wie Klaus Mertes
durch seinen Brief an die ehemaligen
Schüler des Canisius-Collegs in Berlin im Januar 2010. Das ist wohl wahr.
Aber mit großer Bestimmtheit ist auch festzuhalten, dass es ihm dabei nicht
um die Zerstörung seiner Kirche und schon garnicht um eine persönliche
Absetzbewegung von dieser ging. Ganz im Gegenteil: Es ging ihm gerade
um seine Kirche - und das in einem umfassenden und existentiellen Sinn.
(Übrigens- und das sei in der Lutherdekade erlaubt zu erwähnen – war das
vor fast 500 Jahren bei Martin Luther überhaupt nicht anders – doch das ist
ein anderes weites Feld)
Wenn man also mit der heutigen Preisverleihung Bezug nehmen möchte auf
das Vorbild von Ferdinand Tönnies als eines Denkers und Wissenschaftlers,
der den religiösen Traditionen seiner damaligen Zeit mit großem skeptischen
Abstand und persönlicher innerer Distanz gegenüberstand, dann sind in
dieser Frage der Namensgeber des Preises und der heutige Preisträger
deutlich voneinander zu unterscheiden. Ihre Verbindung liegt nicht im
Verhältnis zu Religion und kirchlicher Tradition - ihre Verbindung liegt im
Wahrnehmen gesellschaftlicher Verantwortung und in einem
leidenschaftlichen Engagement für die Wahrheit , die Wahrhaftigkeit und die
Ethik, die eine Gesellschaft und ihre Gemeinwesen trägt, ohne die sie nicht
sein können, ohne die sie auf Dauer nicht überleben werden.
Gerade weil Klaus Mertes sein Fundament, seine Kirche, nie verlassen wollte
und weil er sie nicht im Stich lassen will, nur deswegen konnte er auch eine
besondere Form des Vorgehens wählen, die ein anderer so wohl niemals
gefunden hätte.
Und gerade diese besondere Form seines Vorgehens und seines öffentlichen
Eingreifens in diesem Konflikt wird ganz sicher einmal im Rückblick als
besonderer Glücksfall erkannt werden, als Moment, wo sich an ihm die
Geister scheiden konnten, so wie sich ein reißender Strom an einem
Widerstand aufspalten muß, der sich ihm entgegenstemmt, ohne mitgerissen
zu werden.
II.
Als seit 2009 das Thema des Missbrauchs und der heimlichen Gewalt
gegenüber Kindern und Jugendlichen in Heimen und öffentlichen Institutionen
in aller Intensität die Öffentlichkeit beschäftigte, gab es verschiedene
Gremien, Parlamentsanhörungen, Runde und Eckige Tische,
Ministerinnenrunden, Juristische Expertinnen und Beauftragte etc. die sich um
eine Lösung bemühten. (Nur nebenbei sei bemerkt, in den meisten Fällen
handelte es sich zwar bei den Taten, die wir untersuchten, um von Männern
ausgeübte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen – die sich aber jetzt
um die Aufarbeitung bemühten, waren überwiegend Frauen, auch hier war
Pater Mertes eine Ausnahme)
Da auch ich damals für einen solchen Runden Tisch, den über die
Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, zuständig war, konnte es gar
nicht ausbleiben, dass wir uns in dieser Zeit oft trafen, unsere Kenntnisse,
Erfahrungen, auch unsere permanente persönliche Überforderung durch ein
solches Thema miteinander austauschten.
Aus dieser gemeinsamen Erfahrung kann ich Ihnen jetzt auch die drei
grundsätzlichen Möglichkeiten erklären, die sich damals überhaupt anboten,
sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen.
III.
Die erste Möglichkeit war die , sich intuitiv auf die Seite der Opfer zu stellen,
ihre schrecklichen Berichte stumm anzuhören, die ahnungslose Öffentlichkeit
damit zu konfrontieren, damit den Opfern zu einer Stimme zu verhelfen und
dem Entsetzlichen und Unfassbaren endlich einen Raum und ein Echo zu
verschaffen.
Diesen Weg gingen die meisten Parlamentarier, die zuerst auf dieses Problem
gestoßen wurden. Besonders unterstützt wurden sie von den Medien, die
ganz großes Interesse und Engagement zeigten. Natürlich waren die vielen
Berichte, die dann folgten, nicht immer frei vom Voyeurismus an so viel Leid,
zumal wenn es sich um sexualisierte Gewalt an besonders hilflosen kindlichen
Opfern handelte – aber es überwog doch der aufklärerische , und auf die
Zukunft hin präventive Charakter dieses neuen Wissens über soviel bisher
unbenannte, unbekannte und ungesühnte Unrechtserfahrung.
In diesem Sinne arbeitete und arbeitet bis heute auch die Stelle bei der
Bundesregierung , die unsere Kollegin,die frühere Ministerin Christine
Bergmann geleitet hat.
Bei dieser Methode blieben aber dreierlei Fragen im Wesentlichen ungelöst:
Einmal: Was passiert dauerhaft mit den Opfern? Wer begleitet sie in ihrem
Schmerz und ihren berechtigten Rachegefühlen? Wer schafft ihnen
Genugtuung? Wer kümmert sich um sie, wenn sie durch all diese Debatten
retraumatisiert werden? Das Mitgefühl der Öffentlichkeit und der Medien ist ja
oft nur von kurzer flüchtiger Dauer.
Zum zweiten: Was passiert nun mit den Tätern und Beschuldigten? Wie
vermeidet man – bei oft jahrzehntelang zurückliegenden Taten - sowohl, dass
sie dauerhaft einfach ohne sich je rechtfertigen zu müssen, davonkommen -
oder auch, dass jemand zu Unrecht verdächtigt und dadurch in seinem
sozialen Umfeld nachhaltig als Kinderschänder geächtet wird? Wieviel
historische Wahrheit und rechtstaatliche Sühne ist überhaupt nach so langer
Zeit noch möglich?
Und zum dritten: Wer übernimmt eigentlich Verantwortung für das, was
damals passiert ist und für das, was heute geschieht? Natürlich kommen da
die betroffenen Institutionen ins Spiel, falls es sie heute noch gibt, unter
anderem die Kirchen – aber was ist mit den Familien? Mit den Vereinen? Den
Sport- und Jugendverbänden?
IV
Die zweite Methode, mit dem schier nicht zu bewältigenden Problemen
umzugehen, war die, die im Ansatz der Runde Tisch, den ich geleitet habe,
verfolgte.
Es war der Versuch zu sagen: Alle, jedenfalls sehr viele waren damals und
sind auch heute verantwortlich. Es gab und gibt viele Schuldige, nicht nur
Einzelne, die als Sündenböcke an den Prager gehören. Bei dieser Methode
war es wichtig, dass alle gemeinsam: Staatliche Stellen, Jugendämter,
Kirchen, Einzelpersonen, ehemalige Erzieher, Wissenschaftler, insbesondere
und als wichtigste Zeugen aber die Betroffenen der Opferseite ihren Platz am
Runden Tisch für ein tiefes Eintauchen in die Geschichte dieser
Unrechtserfahrung nutzten, für ein intensives und quälendes Gespräch von
großer Intensität und ein gemeinsames Suchen nach einer Lösung. Zwei
Jahre lang dauerte diese Aufarbeitung über das was damals wirklich geschah,
über die deutsche Nachkriegsgesellschaft, in der das alles passierte und
toleriert wurde, über die Jahre der Missachtung, in der die Opfer von
niemandem gehört wurden . Und natürlich darüber, was eine Gesellschaft die
ihre eigene Mitverantwortung begreift, heute noch tun kann.
Diese Methode stellte an alle Beteiligten am Runden Tisch die höchsten
Anforderungen, der gesamte Prozeß war oft von einer ungeheueren inneren
Spannung geprägt – von dem Außendruck, der insbesondere auf den
Betroffenen der Opferseite lag, ganz zu schweigen. Denn jede
Thematisierung des alten Traumas bedeutete eine Retraumatisierung, ein
wiedererwachen des alten Missbrauchs und des alten Misstrauens und also
einen großen Schmerz. Niemand , schon gar nicht die Moderatorin konnte
diesen Schmerz aufheben.
V.
Pater Mertes hat diese Gespräche auch geführt, aber er hat noch eine
andere, die dritte Möglichkeit gewählt, die aber eben auch nur er, mit seinem
festen Standpunkt in der Kirche, wählen konnte:
Er hat die Opfervertreter, als sie im Jahre 2009/2010 zu ihm kamen,
angehört, er hat ihnen geglaubt, er hat begriffen, dass das die Institution der
Kirche aufs Äußerste in Frage stellt – und er hat gewusst: einer muß sich für
diese Institution als Adresse für soviel Unrechtserfahrung, für soviel
berechtigte Anklage , für eine so himmelstürzende Infragestellung zur
Verfügung stellen. Einer musste sich für die Institution einfach hinstellen. Und
das hat er getan.
Das schwerste an dieser Position war, zu akzeptieren, dass es die Würde der
Opfer verlangt, dass man sich nicht einfach an deren Stelle begibt, in einer
oberflächlichen Scheinsolidarität, die nicht wirklich hilft, und in einer
folgenlosen Betroffenheit.
„Ich bin nicht die Posaune der Opfer“, hat Klaus Mertes gesagt,“Ich höre ihnen
zu, ich bin ihr Gegenüber, ich stehe hier für die Institution, die für all das
verantwortlich war.“
Vielleicht hat dieses Moment die katholische Kirche mehr erschüttert als alles
andere.
Denn jetzt war sie in ihrem innersten Selbstverständnis infrage gestellt, in
ihrer generellen Verantwortung auch für das, was einzelne unter Missbrauch
ihres Auftrages getan haben.
Klaus Mertes hat das später so bezeichnet: Das eine Verbrechen waren die
Übergriffe auf Schutzbefohlene, die sich gerade in kirchlichen Räumen in
einem vermeintlich besonders vertrauensbasiertem Raum befanden. Das
zweite nicht minder schwere Verbrechen aber ist das Vertuschen, dass
Wegsehen, das nicht Wissen-Wollen und das Nicht- Auflehnen gegenüber
falschen Autoritäten. Unter uns haben wir das später oft den eigentlichen
Machtmissbrauch, die machtgestützte Männerbündelei genannt.
Diese infrage zu stellen, das kann man nur, wenn man in der Gemeinschaft
bleibt, in der dieser Machtmissbrauch passiert ist. Sonst wäre man nur halb so
stark und wirkungsvoll. Alle wirklich großen Veränderungen passieren
innerhalb der Gemeinschaften, von außen kann man zwar viel Getöse
machen, manchmal kann man auch richtige oder verbale Bomben schmeißen,
aber man kann nicht die Substanz verändern. Das ist das Geheimnis
gewaltfreier Veränderungen.
Aber, glauben Sie mir, diese Methode, sich für die schuldige Institution
hinzustellen, braucht Mut, und manchmal unglaubliche Energie. Sie macht
gelegentlich auch einsam.
Ich denke, dafür, dass Klaus Mertes dies mit aller Konsequenz bewiesen und
versucht hat, dafür hat er diesen Preis mehr als verdient – und sei es auch
nur als Ermutigung auf dem Wege. Denn was er vorhat, das ist ja immer noch
nicht vollendet. Viel Glück bei allen weiteren Kämpfen!
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© 2013 Dr. Antje
Vollmer