"Moralische Nötigung"
(DER SPIEGEL - Sonderheft GESCHICHTE Nr. 2/2009)
Im Kosovo beteiligten sich 1999 zum ersten Mal nach dem Zweiten
Weltkrieg wieder deutsche Soldaten an einem Waffengang. Es war
eine Zäsur für das Land und eine Zerreißprobe für Rot-Grün.
Antje Vollmer. Die Theologin zog 1983 für die Grünen zum ersten Mal
ins Parlament in Bonn ein. Von 1994 bis 2005 war die heute 65-Jährige
Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
Dennoch besteht kein Zweifel darüber, dass viele
verantwortungsbewusste Persönlichkeiten damals geglaubt haben,
sie könnten mit Hilfe der neuen Prinzipien dem Chaos in der Welt
steuern. Heute wissen wir, dass es wichtiger ist, die Kontinuität des
Rechts durch die allgemeine Verwirrung der Angriffe zu retten, auch
wenn dabei einige Halunken ihrer Strafe entgehen, als zu versuchen,
sie alle mit einem Sonderrecht dingfest zu machen.
Marion Gräfin Dönhoff, 1950
Die Niederlage bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des
Kosovo-Konfliktes begann früh. 1990 war Ibrahim Rugova, der
Anführer des gewaltfreien Kampfes der Kosovaren, zu einem Besuch
in Bonn. Er suchte die Unterstützung der bundesdeutschen Politik
und der bundesdeutschen Öffentlichkeit, die in seinen Augen eine
bedeutende Hilfe gegenüber der Regierung in Belgrad bedeutet hätte.
Damals war es unmöglich, für ihn einen Gesprächstermin im
Auswärtigen Amt zu bekommen. Aber auch zu einer Pressekonferenz
in Bonn erschien nur eine einsame Praktikantin der Katholischen
Nachrichtenagentur. Ich war damals Fraktionssprecherin und setzte
einige grüne Mitarbeiter in den Raum, mit Block und Bleistift, damit es
nicht gar so trostlos aussah. Zu diesem Zeitpunkt hätte ein bisschen
Druck aus den wichtigsten Metropolen der westlichen Welt ganz
sicher ausgereicht, um dem serbischen Präsidenten Slobodan
Milosevic seine Grenzen zu zeigen.
Das Desinteresse am Kosovo setzte sich fort bis zur Dayton-
Konferenz 1995, die den Bürgerkrieg in Bosnien beendete. Über
Ibrahim Rugova hieß es hinter vorgehaltener Hand, er sei ein Mann
von gestern mit vielen persönlichen Problemen. Milosevic war noch
nicht in Ungnade gefallen, sondern wurde eingeplant, als wichtiger
stabilisierender Faktor für das Abschlussdokument. Dabei hatte er
seine berühmte Rede vom Amselfeld schon gehalten, in der er das
Kosovo zum Herzstück eines aggressiven serbischen Chauvinismus
erklärte. An die Möglichkeit, das Kosovo unter internationalen Schutz
zu stellen, wollte damals niemand denken.
Die anhaltende Nichtbeachtung und der offensichtliche Misserfolg der
gewaltfreien Strategie gehörten zu den Ursachen, die Anfang 1997 zur
Gründung der militanten Befreiungsbewegung UCK führten. Die UCK
war, nach damals allgemeiner Einschätzung, eine Gruppe von
Terroristen, eng mit den mafiösen Strukturen von Waffenhandel und
Prostitution verbunden. Bei dem sehr fragilen Zustand in Bosnien-
Herzegowina, bei den zunehmenden gewaltsamen Übergriffen der
serbischen Sicherheitskräfte auf die Kosovaren, gelang es der UCK
bald, annähernd 40 Prozent des Landes unter die eigene Kontrolle zu
stellen. Auch für die Nato wurde sie immer interessanter, falls es zu
einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen sollte.
Überhaupt lag die Planung von potentiellen Gegenstrategien, die
Vorbereitung eventueller Luftschläge und damit das Suchen nach
einer möglicherweise geeigneten Bodentruppe überwiegend in den
Händen der Nato. Russland mit seinen bekannt guten Beziehungen
und Einflussmöglichkeiten auf Belgrad wurde brüskierend außer Acht
gelassen, was der damaligen Geringschätzung nach der Niederlage im
Kalten Krieg vollkommen entsprach.
Logischerweise vermieden es die Unterstützer der kosovarischen
Sache auch weitgehend, den UN-Sicherheitsrat mit der anwachsenden
Krise zu beschäftigen, befürchtete man doch ein Veto der gekränkten
Russen und eventuell auch der Chinesen. Die Resolutionen des
Sicherheitsrates zum Thema Kosovo vom 31. März 1998 und 23.
September 1998 (Resolutionen 1160 und 1199) enthalten – mancher
späteren Interpretation zum Trotz – definitiv kein Mandat zu
kriegerischen Maßnahmen. Nur einen Tag später, am 24. September,
aktivierte der Nato-Rat seine Vorbereitungen für alle Eventualfälle. Es
sollte sich bald zeigen, dass dadurch die Nato auf sich selbst den
größten Handlungsdruck ausübte.
In dieser Zeit herrschte in Deutschland Wahlkampf, und gleichzeitig
stieg im Kosovo die Zahl der Flüchtlinge aus den militärischen
Schwerpunktgebieten des anwachsenden Bürgerkrieges
Am 27. September endeten die Bundestagswahlen zum ersten Mal mit
einer rot-grünen Mehrheit. Am 16. Oktober 1998 trat der Bundestag
noch in den alten Mehrheitsverhältnissen zusammen, da die neue
Regierung bisher nicht vereidigt war. Thema: Die Teilnahme der
Bundeswehr an einem eventuellen Luftkrieg gegen die Republik
Jugoslawien zur Abwendung einer "humanitären Katastrophe". Ein
Mandat des UN-Sicherheitsrats lag nicht vor.
Kurz zuvor waren der designierte Außenminister Joschka Fischer und
Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem Blitzbesuch in die USA
geflogen, um sich vorzustellen, aber auch um die Haltung der neuen
Regierung für den Kosovokriegsfall zu klären. Bei der Hinfahrt waren
sie fest entschlossen, die traditionelle Haltung aller
Bundesregierungen einzunehmen, nämlich dass die Deutschen an
einem solchen Krieg aufgrund ihrer Verfassungslage nicht teilnehmen
könnten. Als sie wiederkamen, ließen sie verlauten, das sei von der
Clinton-Regierung akzeptiert worden.
Bis heute ist nicht klar, was in der Woche darauf geschah. Eine
Einflussnahme noch durch die alte Regierungsmehrheit lässt sich
durchaus vermuten, jedenfalls hieß es wenige Tage später: Die Frage
der deutschen Beteiligung entscheide definitiv über die
Regierungschancen von Rot-Grün, die neue Koalition müsse sich im
Spannungsfeld von Blockade des UN-Sicherheitsrates,
Bündnisloyalität und Völkerrecht gegen die bis dato vorherrschende
Völkerrechtsinterpretation entscheiden müsse.
Dem völkerrechtlich und verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen
Militäreinsatz stimmten dann 99 Prozent der Abgeordneten der
CDU/CSU, 95 Prozent der Abgeordneten der FDP, 88 Prozent der
Abgeordneten der SPD und 63 Prozent der Abgeordneten von
Bündnis 90/Die Grünen zu.
Der völkerrechtliche Sündenfall war theoretisch, aber noch nicht
praktisch vollzogen. Zunächst einmal schien die Drohkulisse zu
funktionieren. Erneut schalteten sich die Russen ein, und es kam zu
der OSZE-Mission im Kosovo, die allerdings von allen beteiligten
Nationen weit unterhalb der zugesagten Mannstärke verblieb und die
mit ihrem Vorsitzenden William Walker erhebliche Mühe hatte, eine
neutrale Position im Konflikt einzunehmen.
Das zeigte insbesondere das sogenannte "Massaker von Racak" vom
15./16. Januar, dessen Hergang immer noch Rätsel aufgibt. Bis heute
ist unklar, ob die als Zivilisten ausgewiesenen Opfer nicht zu einem
ganz großen Teil gefallene UCK-Kämpfer waren, die an einem
bestimmten Ort zusammengetragen wurden. Internationale
Medienvertreter sind an den Ort des Schreckens geführt worden, ehe
eine kriminalistische Untersuchung stattgefunden hatte.
Ab diesem Datum galt die OSZE-Mission als gescheitert; die meisten
westlichen Medien zeichneten ein Bild, in dem die Alleinschuld der
Serben an der wachsenden Brutalität des Bürgerkrieges wie eine feste
Gewissheit erschien. Dazu kamen Übertreibungen und Ausmalungen,
die immer wieder die unglaublichen Verbrechen in Sebrenica
wachriefen, bei denen im Juli 1995 bis zu 8000 Bosniaken getötet
worden waren.
Vom 6. bis zum 23. Februar 1999 kam es zu einer Konferenz in
Rambouillet, zu der von kosovarischer Seite zum ersten Mal die bisher
als Terrororganisation eingeschätzte UCK als Verhandlungspartner
einbezogen wurde. Ibrahim Rugova galt als vernachlässigbare Größe.
Bei der rot-grünen Regierung herrschte noch die Illusion, durch das
gemeinsame Vorgehen von Amerikanern und Europäern habe man die
USA und die Nato unlösbar an eine Methodik der Krisenprävention
gebunden, wie sie immerhin der amerikanische Diplomat Richard
Holbrooke schon einmal am 12. Oktober 1998 gegenüber Milosevic
erfolgreich durchgesetzt hatte. Aber diesmal wendete sich das Blatt:
Nicht die Nato wurde an die Beschwichtigungsstrategie gebunden,
sondern die Europäer klebten an ihrem leichtfertig gegebenen
Vorratsbeschluss.
Der Rest war Formsache. Die kosovarischen Vertreter unterschrieben
auf Druck von US-Außenministerin Madeleine Albright die Erklärung
von Rambouillet, die Vermittlungsversuche der Russen wurden
zurückgewiesen, von Milosevic wie von den westlichen Staaten. Am
23. März 1999 flogen die ersten Bomber Richtung Belgrad, und ein
Krieg, der kein völkerrechtliches Mandat hatte, begann.
Was waren die Fehler auf dem Wege dahin?
1. Die mangelnde Unterstützung für die gewaltfreie Position im
Kosovo, solange es noch Zeit war,
2. die Nichtberücksichtigung des Kosovoproblems im Dayton-
Abkommen,
3. die Duldung und spätere Anerkennung der UCK als potentielle
Bodentruppe,
4. die Nichteinbeziehung der Russen in die Konfliktregelungen,
5. die mangelnde Unterstützung der OSZE-Mission,
6. die kampagnenhafte Einseitigkeit in den politischen
Stellungnahmen und in den westlichen Medien, die immer den Serben
die alleinige Schuld gaben, den Kosovaren aber die Opferrolle
zubilligten,
7. der Versuch, die Nato-Gremien zu den entscheidenden
Regelinstanzen zu machen und nicht den UN-Sicherheitsrat,
8. generell: der Bruch des Völkerrechts,
9. die westliche Favorisierung eines unabhängigen kosovarischen
Staates, unterstützt sogar von allen späteren Verantwortlichen für die
Kosovo-Mission der Vereinten Nationen UNMIK. Am Ende stand ein
Staat, der in sich selbst nicht lebensfähig ist und der zum
Präzedenzfall für den Bruch des Völkerrechts wurde.
Für die rot-grüne Regierung und besonders für die Grünen bedeutete
die Teilnahme am Kosovo-Krieg eine tiefe Zäsur. Bundeskanzler
Schröder, Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Außenminister
Fischer versuchten deswegen, die Begründung für einen solchen
Einsatz moralisch zu überhöhen und ihn als "alternativlos"
hinzustellen.
Während für die Clinton-Regierung eher realpolitische Kriegsziele
galten – die Stärke und Entschlossenheit der Nato sollte demonstriert,
die Bundesrepublik Jugoslawien von weiteren Gewalttaten
abgeschreckt und die militärischen Fähigkeiten von Milosevic
systematisch eingeschränkt werden – lautete die Begründung in
Deutschland: Dieser Krieg sei unausweichlich, um die "humanitäre
Katastrophe" neuer Völkermorde zu verhindern, das entspreche den
Lehren aus der blutigen Geschichte der NS-Zeit.
Der politische Preis für die Grünen war besonders hoch. Auf dem
Bielefelder Parteitag am 13. April 1999 – also mitten im Kriege –
versuchte Joschka Fischer mit einem machtpolitischen Bravourritt
den heftigen Widerspruch in der grünen Partei niederzuringen. Das
gelang ihm, nach einer Farbbeutelattacke, durch eine die Lehren von
Auschwitz wachrufenden moralische Nötigung. Es führte aber zu einer
tiefen Kluft zwischen den Grünen und der sie ehemals tragenden
Friedensbewegung. Nicht wenige Mitglieder verließen die Partei, um
wieder nur außerparlamentarisch zu arbeiten oder sich dann später
den heutigen Linken anzuschließen.
Was nach innen hin nur mit einem geradezu missionarischen
Idealismus und machtpolitischem Zwang durchzudrücken war, wurde
in den Medien als schlichte realpolitische Notwendigkeit gewertet, die
jede deutsche Regierungspartei nach 1989 zu vollziehen habe. In der
Konsequenz wurden mit der Entgrenzung des Auftrags der
Bundeswehr und einer faktischen "Entrechtung" des Völkerrechts
außenpolitische Bindungen verlassen, die während des Kalten
Krieges nie in Zweifel gezogen worden waren. Das "Neue Denken" der
neokonservativen Bewegung hatte die Sphäre der Außenpolitik
© 2015 Dr. Antje
Vollmer