Liebe Gemeinde,
Gestern vor 100 Jahren fielen die Todesschüsse von Sarajewo , mit denen der
erste Weltkrieg begann. Wir gedenken in diesem Jahr des ersten, des zweiten
Weltkrieges und des Endes des Kalten Krieges. Manchmal , so scheint es mir,
vergessen wir darüber die, die alles versucht haben, um diese Kriege überhaupt
zu verhindern oder doch zu beenden. Die sollen heute aber bei unserem
Nachdenken im Zentrum stehen!
I.
Die Verurteilten hatten nur noch wenige Stunden zu leben. Sie hatten einen
letzten gemeinsamen Wunsch: Die Geschwister Sophie uns Hans Scholl, beide
evangelisch, und ihr Freund Christoph Probst, katholisch , baten darum,
zusammen ein letztes gemeinsames Abendmahl feiern zu dürfen. Es wurde
ihnen nicht erlaubt. Die Zurückweisung dieses Wunsches kam dieses Mal nicht
von staatlicher Seite, sondern von den kirchlichen Würdenträgern. Katholiken
und Protestanten durften auch in der Todeszelle nicht gemeinsam zum Tisch des
Herrn.
Noch heute ist das so. Jedes mal am 20. Juli, wenn früh morgens vor allen
offiziellen Gedenkfeiern die Angehörigen der Hingerichteten sich zu einem
gemeinsamen Gottesdienst im Henker-Schuppen von Plötzensee treffen , wird
zwar die Predigt, die Lesung, Fürbitten und Liturgie gemeinsam veranstaltet,
aber danach findet in jährlichem Wechsel erst eine katholische Eucharistie-Feier
und dann ein Abendmahl nach evangelischem Ritus statt – oder in umgekehrter
Reihenfolge. Zwar bleiben alle Besucher dabei im gleichen Raum, aber die
Liturgien bleiben getrennt, wie es der generellen Kirchenpraxis entspricht.
Anders zu verfahren wäre ja insbesondere dem katholischen Geistlichen auch
kirchenoffiziell untersagt.
Selbst in diesem Raum, in dem der Henker keinen Unterschied mehr machte
zwischen den Verurteilten, bleibt die unüberwindliche Grenze bestehen bei der
gemeinsamen Gedenkfeier für alle Opfer der Schergen, darf der Zugang zum
Tisch des Herrn nicht gemeinsam wahrgenommen werden.
Grenzgänger sind gefragt, mutige Menschen, die solchen Grenzziehungen nicht
länger gehorchen. Im Todestrakt von Dachau, bei den Freunden Hans und
Sophie Scholl und Christoph Probst war es ein unbekannter Helfer des Henkers
oder der Gestapo, der den dreien eine letzte gemeinsame Zigarette anbot als
Zeichen ihres gemeinsamen Bundes und Schicksals. Einsetzungsworte und
theologische Interpretationen gab es keine, auch keine überlieferten
Abschiedsworte. Während die drei diese letzte Zigarette rauchten, verließ der
unbekannte Wohltäter den Raum und ließ sie allein, beieinander.
Leonardo Boff, der große lateinamerikanische Befreiungstheologe, hat das das
„Sakrament der letzten Zigarette“ genannt.
II.
Vielleicht muß man den Blick radikal ändern, um zu begreifen, was Befreiung
wirklich bedeutet. Man muß lernen, nicht mit den Augen der Sieger, der Verwalter
des Überkommenen, zu sehen, die Wind in tote Asche blasen, sondern man
muß die klare, durch Leid erworbene Vision der - nach Ansicht der herrschenden
Meinung - Gescheiterten hören und sie weitertragen. Das erst wäre Ihre
Auferstehung, nicht, daß wir sie als Gescheiterte oder als Opfer betrauern und
beweinen.
In den Gefängnissen von Dachau, Stadelheim,Tegel, Plötzensee, Lehrter Straße,
Flossenbürg wurde manches deutlicher und manches auch einfacher. Der
protestantische Gefängnispfarrer Harald Poelchau, selber heimlich Mitglied des
Kreisauer Kreises, gab den katholischen Gefangenen selbstverständlich das
Abendmahl in ihrer Zelle, wenn er überhaupt noch zu ihnen gelassen wurde.
Über Dietrich Bonnhoeffer und Ernst Wilm, die Gefangenen aus dem Umkreis
der Bekennenden Kirche wird von gemeinsamen Gottesdiensten und
Mahlgemeinschaften berichtet. Sie brauchten dafür keine Erlaubnis, schon
garnicht von oben.
Überhaupt war eine ihrer zentralen Botschaften an die, die den Krieg überleben
würden: Schafft eine neue Gemeinschaft! Hans Leuschner, der Sozialdemokrat,
rief noch vor seinem Tod den Freunden zu: “Schafft die Einheit!“ – und meinte
damit die Einheit der Gewerkschaftsbewegung. Die politischen Gefangenen
wünschten sich eine neue Einheit in ihrem Volk, nach der großen und
notwendigen Niederlage der Deutschen, an der sie nicht zweifelten. Und die
Christen träumten von der großen Einheit einer erneuerten Christenheit:
„Sonne der Gerechtigkeit,
gehe auf zu unserer Zeit,
fang in deiner Kirche an,
dass die Welt es sehen kann.
Erbarm Dich, Herr !“
Schaue die Zertrennung an,
der kein Mensch sonst wehren kann,
sammle großer Menschenhirt
Alles, was sich hat verirrt.
,Erbarm dich, Herr!“
III.
„Wachet und betet, auf dass ihr nicht in Anfechtung fallet“ – sagt Jesus im Garten
Gethsemane, im Garten seiner letzten Versuchung, zu seinen Jüngern. Er ist
allein, er fühlt die kommende Gefahr, er fühlt den Verrat in seiner nächsten
Nähe, er zweifelt an seiner Aufgabe, „ Vater, ist´s möglich , so gehe dieser Kelch
an mir vorüber.“ Vielleicht zweifelt er sogar an Gott, der ihm dies alles nicht
erspart.
Darum braucht er seine Jünger: Nicht , damit sie ihn vor den Kriegsknechten
retten, wie Petrus das erwägt. Nicht, damit sie ihn vor dem Schicksal des
religiösen Ausgestossen-Seins bewahren, nicht, damit sein Leben vielleicht an
einem anderen Ort und in anderer politischer Mission ruhmreicher verläuft, wie
dies vielleicht Judas im Sinn hat.
Er braucht sie, um seiner Sache treu zu bleiben, seinem Auftrag, dem Sinn
seiner Mission. Er braucht sie, um weiter darauf zu vertrauen, dass sein Opfertod
einen Sinn hat, mit dem er bezeugen wird, dass das Reich Gottes den Armen,
den Verlierern und den Verlorenen dieser Welt gilt - und dass es die größten
religiösen und politischen Mächte dieser Welt durch Gewaltlosigkeit überwinden
wird.
Das ist ja eine sehr schöne, tiefe, Botschaft, die die ganze Existenz erschüttert.
So haben es wohl auch die Jünger gehört. Und in der Melancholie und
Einsamkeit dieser Nacht, haben sie Jesus noch ein bisschen mehr allein ins
Dunkle gehen lassen - und sind darüber eingeschlafen, vor Müdigkeit, vor
Melancholie, vor Abschiedswehmut – und weil morgen bestimmt ein anderer Tag
kommt, wo alles im Lichte der Sonne dann hoffentlich ganz anders aussieht.
Jesus konnte nicht mehr zurück, aber sie doch. So weit wollten sie denn doch
nicht mit ihm gehen, dass sie wachen Sinnes in dieser Nacht ganz begriffen, was
der Kern seiner Botschaft vom Gottesreich war, nämlich dass es den Verlierern
dieser Welt gehört. Es ist nämlich kein Reich für einsame Helden, Könige,
Charismatiker, Ideologen und Heerführer. Es ist ein Reich an einem so einsamen
Ort, dass der sich nur ertragen läßt, wenn man beieinander bleibt.
IV.
Die Frauen und Männer des 20. Juli gehören zu den Gescheiterten dieser Welt.
Selbst in der Nachkriegsgeschichte sind sie irgendwie nie ganz in ihrem Volk
angekommen und von ihm als Vorbilder und Identitätsfiguren angenommen
worden. Denn die wenigsten haben aufgegriffen, um was es ihnen eigentlich
ging.
Die herkömmliche Meinung über die Beteiligten des 20.Juli ist ungefähr so: Es
waren sowieso zu wenige, die gegen Hitler waren, und diese waren auf jeden
Fall zu konservativ, manche sogar reaktionär. Dazu waren es Militärs , Adelige
aus einer anderen Zeit. Nicht wenige von ihnen wären ja selber Nazis gewesen
und eigentlich seien sie erst zum Widerstand bereit gewesen, als der Krieg
längst verloren war. So müsse man doch vermuten, dass es ihnen eigentlich vor
allem um eigene Privilegien gegangen sei. Schließlich sei es ihnen wohl sowieso
nur um ein symbolisches Zeichen, eine symbolische Aktion gegangen, nicht um
ein wirkliches Ende des Schreckens, Manchmal wurden sie sogar als Verräter
ihrer Kameraden oder doch als unerträgliche moralisch-doktrinäre Einzelgänger
betrachtet, die man nicht zur Norm erklären dürfe. Ihren Angehörigen wurde oft
die Mittrauer und das Mitgefühl entzogen, sodaß sie sich ganz in sich
zurückzogen .
„Könnt Ihr denn nicht eine Stunde bei mir wachen? Könnt Ihr denn nicht eine
Stunde bei mir bleiben, noch nicht einmal in der Stunde Null?“
Das Schwierigste an einer Niederlage ist immer, dass sie in doppelter Form
auftritt: Erst tritt sie in der Wirklichkeit ein – und dann noch einmal im Gedächtnis
der Nachwelt, die von dieser gefährlichen Nähe wegzustreben versucht . Da
heißt es dann: Es war einfach falsch, was da versucht wurde, es wurde von den
falschen Leuten, mit der falschen Gesinnung versucht! Man hätte das besser
machen können, mit anderen Berufeneren und zu einem anderen Zeitpunkt –
und dann wäre es auch ein schöner Erfolg geworden, dem wir uns gern
angeschlossen und den wir gerne mit gefeiert hätten.
Bei den Scheiternden, bei den Verlieren zu bleiben, bedeutet aber vor allem eins:
Ihre Vision hochhalten, weiter an sie glauben und darin nicht irre werden, auch
wenn sie zu scheitern droht in den Augen der Gegenwart und der Nachwelt.
V.
Was war denn diese Vision?
Am 20.Juli ging es nicht in erster Linie um ein Attentat, um ein Fanal an die Welt,
es ging um den Versuch, der Machtzentrale des NS-Staats die ganze Macht aus
den Händen zu reißen - und das in der Wirklichkeit einer real existierenden
brutalen Diktatur und in der Wirklichkeit eines real existierenden Weltkrieges.
Wäre der Umsturz erfolgreich gewesen, der Krieg sollte sofort beendet werden
und Millionen Menschen in den Lagern, in den Bombenhageln , an allen
Kriegsfronten, in den Flüchtlingstrecks hätten überlebt ( mehr als die Hälfte aller
Toten dieses Krieges starben erst in den folgenden letzten Monaten des Krieges
) Wäre der Staatsstreich erfolgreich gewesen, hätte vielleicht der Warschauer
Aufstand, der nur eine Woche (!) später stattfand ebenfalls Erfolg gehabt und die
Geschichte in der Mitte Europas wäre völlig anders verlaufen.
Auch das ist klar: Wäre der Staatsstreich gelungen, hätte Deutschland trotzdem
eine verdiente Niederlage erlitten und völlig neu anfangen müssen, mit seiner
Schuld fertig zu werden und ein völlig neues Verhältnis zu seinen Nachbarn
aufzubauen – und auch im Inneren wäre nichts beim alten geblieben.
Was nutzen solche Gedanken, 70 Jahre später ?
Sie halten uns an, die Sache der Scheiternden nicht unsererseits nur deswegen
verloren zu geben, weil sie gerade scheitert.
Das genau war die Geburtsstunde des Christentums: Bleiben unter dem Kreuz,
die Vision des vor den Augen der Welt Gescheiterten nicht verloren geben!Gott
ist selten bei den Siegern, seine Gemeinde hat den Auftrag, die Vision der
Gescheiterten nicht verloren zu geben, sondern die Gemeinschaft mit ihnen
nicht aufzugeben, trotz aller Zweifel, trotz aller Niederlagen und Anfechtungen.
Das ist das Sakrament der letzten Zigarette. Es schafft eine Gemeinschaft, da
wo keiner sie vermutet, es hält die Vision der Gescheiterten am Leben, und es
bewahrt diese Gemeinschaft- trotz aller Angst.
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© 2014 Dr. Antje Vollmer
Predigt in Bochum am 29.6.2014:
Ökumene im Schatten des 20. Juli :
„Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, auf dass Ihr nicht in Anfechtung
fallet.“(Matth. 26,41)