Ritter der Übermoral (FAZ 27.09.99)
Erschienen in der FAZ am 27.09.1999
Ritter der Übermoral / Von Antje Vollmer
Früher, zu den Zeiten von Heinrich Böll und Christa Wolf, von Günther
Grass und Wolf Biermann, war es vor allem die Politik, die sich mit den
Künstlern anlegte. Das ist lange her. Heute sind es die politischen
Feuilletonisten, die
als Generäle und Generalisten Streit suchen. Die Reihe der großen
Namen
ist lang, die in den letzten Jahren in Verdacht und Verruf gerieten. Botho
Strauß, Anselm Kiefer, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger,
Gottfried Helnwein, Peter Handke - ihnen allen wurde "gefährliches
Denken", Abdriften in "Untiefen" oder "Fischen im Trüben" vorgeworfen,
wenn man sie nicht gleich verdächtigte, "faschistoid" zu denken, zu
malen oder zu schreiben.
Es sieht so aus, als wäre Peter Sloterdijk der erste, der in diesem
beliebten Gesellschaftsspiel nicht als Verlierer und Verletzter vom Platz
geht. Das kann daran liegen, daß sich das Publikum allmählich zu
langweilen beginnt, wenn immer wieder Zeitgenossen als Faschisten
entlarvt werden, die gar keine sind. Das sind allzu späte Siege über das
historisch Böse an sich. Sloterdijk hätte dann, glücklicher als seine
Vorgänger, den Vorteil des Letzten in einer zu langen Reihe auf seiner
Seite gehabt. Die sensationsheischende Skandalisierung seines Vortrags
war einfach zu dreist. Sobald der Text auf dem Markt war, verschwand
der Skandal wie Vampire vor der Sonne. Wer lesen und zuhören konnte,
begriff schnell, daß die ganze Hysterie ziemlich ohne textliche Grundlage
agierte. So stellt sich an dieser Stelle auch mehr die Frage nach dem
Bildungsnotstand in deutschen Redaktionsstuben. Wie wenig von einem
Text muß man verstanden haben, um darüber eine starke Meinung
vertreten zu können? Oder einfacher: Wie schlecht darf man lesen
können,
um dennoch schreiben zu dürfen? Auch das ist ein weites Feld, aber
doch eher ein Nebenschauplatz.
Worum ging es denn wirklich im Zentrum der Debatte? Das ist nicht
einfach
zu beantworten. Beim näheren Hinsehen findet sich gleich ein ganzes
Knäuel von kleineren und größeren Fehden zwischen Denkschulen,
politischen Biographien, historischen Verantwortungen, Weltbildern,
Gegenwarts-, Zukunfts- und Machtfragen. Versuchen wir einmal, das
Knäuel zu entwirren!
Da ist zum ersten - ganz an der Oberfläche - jener allzu menschliche
Konflikt Sloterdijks mit Jürgen Habermas, der Urheberschaft und
Veranlassung der kritischen Berichterstattung über den Elmau-Vortrag
betrifft. Dazu ist von beiden Kontrahenten mehr als genug gesagt. So
quälend ist das Leben überall, wenn es um Machtpole geht und wenn
man dicht genug aneinander gerät. Ein mimetischer Konflikt.
Dann ist da (2.) die Frage: Darf man heute noch oder wieder Heidegger
lesen? Sloterdijk ist der Meinung, man m u ß Heidegger lesen, wenn man
die Gegenwart nach dem diagnostizierten Ende der humanistischen
Epoche verstehen will. Heidegger, Nietzsche, Wagner, das sind aber seit
den 60er Jahren Reizthemen und verschlossene intellektuelle und
sinnliche Gärten. Hätte es nicht Hannah Arendt gegeben und die
französische Philosophie, wer weiß, ob wir überhaupt nach Auschwitz je
wieder Heidegger hätten lesen dürfen.
Hinter diesem Denk- und Leseverbot, das eben jene Generation im
Selbstversuch über sich verhängte, die sich doch mühsam und mit
revolutionärem Elan den Zutritt zu den verschlossenen Büchern von
Reich, Freud, Marx, Makarenko etc. verschafft hatte, steckte ein
Epochenirrtum: die Übermoralisierung aller Lebensbereiche. Die
Identifizierung von Autor und Werk war besonders verhängnisvoll im
Bereich der Kunst und Kultur. Wenn nur der ein Künstler ist, dessen
Lebensweg moralisch, ethisch und politisch voll überzeugt, dann ist der
Olymp schnell entleert. Das ist dann eine Bücherächtung anderer Art,
von Filmen, Theatern und Bildern ganz zu schweigen. Aber Kunst ist,
wenn sie Kunst ist, selbstexistent und anarchisch. Auch zweifelhafte
Charaktere können große Künstler sein, die Kunstgeschichte ist voll
davon. Man wird nicht von schlechten Künstler-Biographien infiziert, nur
weil man ihre Werke verehrt.
Gut, könnte man einwenden, das gilt aber nicht für die Philosophen und
die von diesen geforderte und zu reflektierende Rolle. Und schon gar
nicht darf
es für Politiker und politische Autoren gelten! Das scheint auf den ersten
Blick einleuchtend, und doch zeugt es zugleich von einer unseligen
Vermischung gesellschaftlicher Rollen und von einer Verachtung der
spezifisch zu fordernden Professionalitäten. So haben wir denn gerade in
diesen beiden Bereichen in den letzten Jahren einen Prozeß der
Übermoralisierung erlebt, die tatsächlich jakobinische Züge trägt. Die
Maßlosigkeit der Tugendanforderung geht da oft Hand in Hand mit einer
völligen Unkenntnis
der Institutionen und ihrer inneren professionellen Notwendigkeiten.
Die Übermoralisierung ist (4.) in einer Mediengesellschaft ein sehr
wirkungsvoller Sound. Genau genommen war dies - verbunden mit der
Erzeugung medial optimierter Lichtgestalten - der Grundton des frühen
Aufstiegs des rot-grünen Politikmodells. Heute - und das gehört zum
aktuellen Hintergrund der Sloterdijk-Debatte - bekommen wir gerade die
Schattenseiten dieses Weges zur Macht zu spüren: Das Tugendmodell ist
von flüchtiger Substanz und kann sich leicht von seinem Erzeuger und
Urheber lösen. Und es ist ein Feuer, das immer gefüttert werden muß. Am
Ende ist Politik nicht mehr kluges und unaufgeregtes Abwägen und
Ausgleichen von Interessen, sondern sie gilt dem Wesen nach als
verwerflich, und alle Politiker werden Schweine.
Ein ähnlicher Prozeß droht dem Bild des Philosophen, und damit wären
wir (5.) bei der Debatte über den angesagten Tod der Kritischen Theorie,
die einmal das Erfolgsmodell einer machtvollen Denkschule war. Fragt
man nach der kritischen Theorie, so fragt man nach der Wächterrolle des
Intellektuellen in der Öffentlichkeit. Dieser Intellektuelle, der sich in
öffentliche Dinge einmischt, taucht in Sloterdijks Polemik gleich in
verschiedener Gestalt auf: einmal als Philosoph in der heineschen
Tradition des Vormärz (Sloterdijk selbst), dann als Philosoph und Mahner
in der aufklärerisch-humanistischen Tradition (Habermas) und dann in
der Rolle der journalistischen Philosophenschüler, der Sloterdijkschen
"Alarmgänse" (Stephan, Asheuer und Mohr), die im vermeintlich höheren
Menschheitsinteresse und im deutlich höheren Show-Interesse selbst da
Alarm schlagen, wo kein feindlicher Gallier in Sicht ist. Die Ironie der
Inszenierung besteht darin, daß Sloterdijk den Prozeß und den Verlauf
der Debatte selbst, und zwar unter freiwilliger Mitarbeit aller
Rollendarsteller, zu einem direkten Beweisverfahren seiner These macht,
daß das Projekt der Diskurstheorie, die Zivilisierung des
Argumentenstreits in öffentlicher Debatte abgedankt habe. Das ist richtig
komisch und erzeugt befreiendes Gelächter.
Diese Inszenierung ist gelungen.
Die bisherigen Debattenfäden allein hätten schon genügend Stoff zum
Streiten geboten, selbst wenn es um gar kein ernstes Thema gegangen
wäre. Man hätte zum Beispiel die heideggerisch-sloterdijksche
Ausgangsthese vom Ende und Scheitern der humanistischen Epoche -
also jenes Versuchs der Entbestialisierung der Menschheit mittels
humanistischer Lehre und klassischer Lektüre - auch am aktuellen
Beispiel der öffentlichen Debatte über den Kosovo-Krieg darstellen
können. Da hätte sich aufs deutlichste belegen lassen, was "Selektion"
im Bereich des Aufsuchens von Wahrheiten praktisch heißt: Wie da - zum
Zwecke der öffentlichen Legitimation - zugleich die höchsten Werte des
Abendlandes zusammen mit der höchsten Kriegstechnologie im
Weltmaßstab bemüht wurden, um einem humanen Anliegen zum Siege zu
verhelfen, das war absolut irritierend in Bezug auf das Projekt des
Humanismus, und zwar ausgerechnet im Moment seines Triumphes, der
Ausweitung des Prinzips der Menschenrechte auf die
zwischenstaatlichen Beziehungen.
Wenn wir einen Meister der kritischen Theorie und der historischen und
begrifflichen Präzision gebraucht hätten, dann damals, als der Begriff
des Völkermordes inflationierte, Milosevic innerhalb von Monaten zu
Hitlers Widergänger mutierte, eine Parteinahme für die Serben schon als
Anzeichen von mentalem Irresein galt und als das ganze Arsenal
historischer Schreckensbilder (die Menschen in den Viehwaggons, das
Fußballstadion in Chile) durchgezappt wurde, um eine kriegsskeptische
Öffentlichkeit humanistisch aufzurüsten. Das humanistische Hirten-und
Wächteramt ist nicht idyllisch und nicht immer zivil. Habermas hat - trotz
aller Bedenken - seinen politischen Schülern für den Krieg der
humanitären Intervention die philosophische Absolution erteilt. Vielleicht
hat dieses Bei-Hofe-Philosophieren mehr mit dem Ende der Kritischen
Theorie zu tun als das Beispiel, durch das Sloterdijk dann endgültig
seine Zuhörer provozierte.
Er seinerseits wählt als Beleg für seine These vom Ende der
humanistischen Epoche (6.) die Frage der philosophischen Haltung zu
den Anthropotechniken und Gentechnologien. Gegen Heideggers
düstere und weltabgewandte Sicht der Technik sieht Sloterdijk die
Technik ebenso als ein Instrument der Selbstzüchtigung des Menschen,
wie es die großen klassischen Instrumente der Selbsterziehung des
Menschengeschlechts durch Religion und humanistische Bildung waren.
Die modernen Technologien sind für ihn, philosophisch gesehen, nicht
von qualitativ anderer Art, und auch sie sind selektiv. Der Philosoph, der
in der Welt wohnt, muß diesen Phänomenen gerecht werden, er kann sie
nicht pädagogisch einhegen, und auch der Gestus des Schäferhundes
wäre nicht angemessen. Noch radikaler: Die antihumanistische
technologische Praxis existiert bereits, wir haben gar nicht mehr die
Wahl, uns zu ihr als einer nicht humanen Praxis zu verhalten.
An dieser Stelle bricht Sloterdijk sein Referat ab, und zwar so abrupt,
daß,
wer ihm bis dahin gefolgt ist, sich fast betrogen fühlen könnte. Denn hier
genau wären mindestens zwei Fragen zu stellen:
1.) Ist es wirklich erlaubt, nur über die sprachliche Brücke des Begriffs
"Selektion" eine Gleichheit zwischen dem humanistischen Zugriff auf
den Menschen durch Religion, Bildung, Zivilisation auf der einen Seite
und dem anthropotechnischen Zugriff auf menschliche genetische
Materie auf der anderen Seite anzunehmen? Trägt so ein Begriff allein die
Identität der Handlungs- oder Seinsweisen? Vielleicht ist hier der
literarische Schwung doch zu groß und das metaphysische und
metaphysik-kritische Sieb doch zu grob für die feinen Körner unserer
existentiellen und politischen Wirklichkeiten.
2.) Wie komme ich, wenn ich schon von der Vergleichbarkeit der
© 2015 Dr. Antje
Vollmer