Das Fußball-Manifest von Jürgen Klinsmann und mir entstand zu einer
Zeit, als Klinsmann noch gar nichts von seinem kommenden Trainerglück
wusste und er fast ausschließlich in den USA lebte. Damals konnten wir
ihn zur Unterstützung dieses Straßenfußball-Projekts gewinnen, dem er bis
heute treu geblieben ist. Wer das Manifest heute liest, sieht auch, dass
Klinsmann schon damals viele Ideen für den deutschen Fußball im Kopf
hatte, die er dann später Stück für Stück in die Tat umgesetzt hat. Zu
unserem gemeinsamen Projekt kam es so: Bei einer Reise nach Kolumbien
im Jahre 1998 hatte mich ein soziales Modell geradezu elektrisiert, das ein
junger Deutscher, Jürgen Griesbeck, dort mit großem Erfolg initiiert hatte.
In Medellin, der gewalttätigsten Drogen- und Banden-Stadt Kolumbiens,
hatte er eine höchst erfolgreiche Bewegung „Futbol por la Paz“ (Fußball
für den Frieden) initiiert. In den Straßen von Medellin begannen junge
Männer und Frauen, die sich vorher manchmal als bewaffnete Gang-
Mitglieder gegenüber gestanden hatten, nach selbst ausgehandelten
Regeln miteinander zu kicken. Das Engagement und die Begeisterung, mit
denen Jugendliche in Kolumbien StraßenfußballProjekte gründeten,
beeindruckten mich so sehr, dass ich Jürgen Griesbeck fragte, ob er nicht
mit meiner Unterstützung ähnliche Initiativen besonders in den neuen
Bundesländern anstoßen wollte. Denn die waren durch viele rechtsradikale
Delikte öffentlich in Verruf gekommen. Im Jahr 2000 startete im
Bundesland Brandenburg zusammen mit der Sportjugend das Projekt
„Straßenfußball für Toleranz“ und fand in vielen anderen Bundesländern
Nachahmer. Eine im besten Sinne zivilgesellschaftliche Idee entwickelte
hohe Attraktivität gerade für solche jungen Männer und Frauen, die leicht
in gewalttätige Gruppen abdriften könnten. Aus Straßenfußball für Toleranz
wurde durch mehrjährige intensive Vernetzungsarbeit streetfootball world.
Um die Arbeit zu unterstützen, gründete ich 2003 gemeinsam mit einer
Gruppe von Prominenten aus Politik, Sport und Entertainment – unter
anderen Friedrich Küppersbusch, Jörg Schönbohm, Matthias Platzeck,
Günther Jauch, Jürgen Klinsmann, Richard von Weizsäcker, Manfred
Freiherr von Richthofen und Marcel Reif – den Verein „Freunde und
Förderer von Straßenfußball für Toleranz“.76 Vom 2. bis 8. Juli 2006 fand
jetzt – parallel zur Fußball-Weltmeisterschaft in Berlin auf dem
Mariannenplatz in Kreuzberg, in einem extra dafür aufgebauten Kiezstadion
die Weltmeisterschaft der Straßenfußballer statt. 24 Mannschaften aus so
gefährdeten Gebieten wie Ruanda, Angola, Israel/ Palästina, Kolumbien
nahmen daran teil. Ein bitterer Wermutstropfen war, dass während „die
Welt zu Gast bei Freunden“ sein durfte, ausgerechnet die jugendlichen
Teams aus Ghana und Nigeria durch die deutsche Botschaft keine Einreise
bekamen und auch in der ach so starken großen Koalition niemand die
Courage aufbrachte, diese Visa einfach anzuordnen.
Geht raus und spielt!
Die deutschen Kicker sind nur noch Mittelmaß. Talente gibt es viele, doch
der DFB entdeckt sie nicht. Ein Plädoyer für den Straßenfußball. Der
deutsche Fußball ist krank. Er hat sich von den Quellen seiner Talente und
Möglichkeiten abgeschnitten. Er sucht seine Spieler nicht mehr auf der
Straße. Kicken auf öffentlichen Plätzen gilt als Störung der öffentlichen
Ordnung. Der Spielbetrieb für Jugendliche ist überreglementiert und
erstickt die Fantasie. Leistungsdruck und Angst verhindern, dass große
Spieler nachwachsen. Entsprechend ist das Bild, das die deutsche
Nationalmannschaft kurz vor der Weltmeisterschaft in Japan und Korea
abgibt. Deutschland hat auf absehbare Zeit keine Favoritenrolle mehr im
internationalen Fußball, weil das Umfeld nicht stimmt. Seit Jahrzehnten
glaubt man in Deutschland, genau vorgeben zu müssen, wie Fußball
gespielt werden soll. Wir machen Lehrpläne und Taktikschulungen. Schon
der Sechsjährige wird ausgesucht, gedrillt, von seinem sozialen Umfeld
isoliert, wie ein Superleistungsportler, der es packen muss. Dabei wird die
soziale Funktion des Fußballs, das Leben mit den Freunden im eigenen
Kiez, vernachlässigt. Eltern und Trainer führen sich wie Fußball-Zombies
auf, wenn sie versuchen, durch das Fußballspielen der Kinder ihre eigenen
Ziele zu verwirklichen: Ich habe es nicht gepackt, aber mein Kleiner wird es
schaffen, wenn ich ihn nur richtig heiß mache. Das Ergebnis ist, dass die
meisten Nachwuchsspieler mit 14 oder 15 verheizt sind. In der Bund A-
Jugend, also zwischen 14 und 18 Jahren, hat der organisierte Fußball eine
Ausstiegsquote von 60 Prozent. Die Nachwuchsspieler haben nicht zu
wenig Motivation, sondern zu viel Druck. Wenn auf einen Achtjährigen
beim Fußballspiel Druck ausgeübt wird, wird er als 20-Jähriger niemals
sein Potenzial erreichen. Zu viel Druck tötet Talent und Spielwitz. Deshalb
haben wir keine kreativen Spieler mehr wie Netzer oder Littbarski, Häßler
oder Basler. Der Leistungsfußball wurde über Generationen aus dem nicht-
organisierten Fußball gefüttert. Noch vor zwei Jahrzehnten wurde der
Fußball zu 70 oder 80 Prozent auf der Straße gespielt. Wohnungsbau und
Autoverkehr haben dem Kicken auf der Straße den Platz genommen. Heute
wird fast nur noch im Verein gespielt. Früher haben die Kids 20 Stunden in
der Woche gekickt, heute nur noch drei. Dabei ist Fußball selbst-lehrend:
Je mehr man spielt, desto besser wird man. In der Nationalmannschaft nun
drücken sich die Eigenarten eines Landes aus: Sie ist die unverstellte
körpersprachliche Äußerung einer Nation. Unsere Weltmeisterteams waren
so unterschiedlich, weil sie aus ganz verschiedenen Gesellschaften
hervorgegangen sind. 1954 hat die Mannschaft von Sepp Herberger gegen
das Bild des hässlichen Deutschen angespielt. Sie tat dies mit geballter
Energie, Disziplin und Aufstiegswille. Weltmeister zu sein, hieß damals
auch: Wir zeigen es denen, wir sind wieder wer. Und wir wissen, was der
Sieg für unser Land bedeutet: dass es wieder den Rücken gerade kriegt.
Damals nahm Herberger jeden Fußballer einzeln ins Gebet und sagte: Von
euch hängt das Bild Deutschlands ab. Jeder Spieler trug das Gewicht der
deutschen Geschichte bleischwer auf seinen Schultern. Diese
Verantwortung haben alle angenommen. Gleichsam zur Belohnung durfte
die Bundesrepublik ein Jahr später der Nato beitreten.1974 waren die
deutschen Weltmeister eine Mannschaft von einzigartigen Individualisten:
Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Gerd Müller – ein Stürmer, wie es ihn nie
wieder gab – der Zauberer Overath. Das waren die 68er auf dem
Fußballplatz. Jeder ein Extremfall für sich. Total unterschiedliche
Charaktere. Die Mannschaft war nicht immer überzeugend. Es gab das
verlorene DDR-Spiel und andere Hänger. Das Endspiel wurde nur
gewonnen, weil die Holländer trotz unzähliger Chancen nicht zum Erfolg
kamen. Aber es war faszinierend, dieser genialen Mannschaft zuzusehen.
Beckenbauer hat den Ball gepflegt wie ein Musikinstrument. 1990 siegten
die Deutschen als Flaneure der Leichtigkeit. Dieser Fußball war wirklich
schön. In der Mannschaft gab es mehr als bloß Kampfeswille, mehr als
losgelöste Individualität. Es war eine Gemeinschaft. Die Mannschaft von
1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, musste man in der Welt nicht mehr
fürchten. Sie war die Fußballmannschaft einer Zivilgesellschaft.
Beckenbauer als Trainer hat die Dinge einfach gelassen, nie verkompliziert.
Bei der Mannschaftsbesprechung in der Kabine ging er kurz auf den
Gegner ein, aber nach zehn Minuten war es dann auch genug. Dann
schickte er die Mannschaft aufs Feld und sagte: Geht raus und spielt! Habt
Spaß! Da war eine große spielerische Substanz. Mit Power-Leuten wie
Matthäus oder Brehme, mit spielerischen Typen wie 78 Littbarski und
Häßler, und vorne Völler und Klinsmann. Die 90er Mannschaft hatte sich
noch nicht als gesamtdeutsche Mannschaft gesehen. Aber sie trat so auf,
dass die anderen Staaten den Deutschen gegenüber großzügig sein
konnten. Die politischen Verhandlungen über die deutsche Einheit mit
Russland, mit den USA, England und Frankreich liefen für uns so glücklich
ab, dass man nur staunen konnte. Die Länder hätten einen Friedensvertrag
von Deutschland mit umfassenden Reparationszahlungen fordern können.
Stattdessen wurde Deutschland als ein verändertes Land vollkommen
akzeptiert. Dieses Heitere, dieses Spielerische vermittelte auch das
Nationalteam: Diese Deutschen musste man niemals wieder fürchten. Die
54er, die 74er und die 90er waren völlig verschiedene Generationen. Jetzt
tritt wieder eine neue auf, in einer Zeit, in der Individual- und Funsportarten
boomen. Eltern haben wenig Zeit, aber genügend Geld, um ihren Kindern
Skateboards oder Skiurlaub zu bezahlen. Zugleich verbringen Jugendliche
immer mehr Zeit vor dem Fernseh- oder Computerbildschirm. Die
Globalisierung und das Durcheinander der Kulturen führen zu großen
Ängsten. Das alles haben die Verantwortlichen beim DFB nicht bemerkt –
jedenfalls haben sie daraus keinerlei Konsequenzen gezogen. Genialer
Fußball wächst auf der Straße, nicht in den disziplinierten Vereinen. Er
wächst aus der Wildheit. Fußball im eigentlichen Sinn ist kein bürgerlicher
Sport. Genialer Fuß- ball hat etwas Anarchisches. Wenn man früher sagte,
Fußball ermöglicht sozialen Aufstieg, dann war vor allem der
Umkehrschluss richtig: Nur die konnten als großartige Fußballer
aufsteigen, die aus einem wilden Umfeld stammten. Die genialen Spieler
wie Breitner, Müller oder Effenberg haben die bürgerliche Bravheit nicht
mit der Muttermilch eingesogen. Weltklassespieler entstehen weder durch
Auslese noch durch optimierte Programme. Sie folgen dem
gesellschaftlichen Versprechen des Fußballs („Du kannst es schaffen!“),
der Spur der unangepassten Typen, die auf Teufel komm raus
ausprobieren, ob sie es ganz nach oben schaffen. Wildheit und
Ausgrenzung gibt es auch heute in Deutschland: Bei den Jugendlichen der
Einwandererszene, die nicht integriert sind und eine unheimliche Wut
haben. Bei Jugendlichen, die sich grenzenlos langweilen, gerade in den
neuen Ländern. An diese wilden Kerle kommt heute kein Verein heran.
Unsere Gesellschaft steht so stark unter Leistungsdruck und sie hat so
viel Angst vor dem Absturz, dass sie dazu neigt, sich einzugraben und an
alten Erfolgsrezepten festzuhalten – im Fußball und anderswo. Dagegen
nützen keine Politikerreden. Aber vielleicht gelingt es dem Fußball, die
Menschen 79 zu einem anderen, besseren Leben zu führen: Du kannst
wieder in einer Gruppe mit anderen zusammen sein, du kannst Spaß
haben, du kannst herausfinden, wer du bist, du kannst dir deine eigenen
Regeln geben, du musst nicht Abitur haben, spielerisch kannst du zu
einem Star werden. Es gibt bereits einige Initiativen, den Fußball wieder
dahin zu bringen, wo Spielwitz und Wildheit zu Hause sind. In Brandenburg
finden seit einiger Zeit immer mehr Straßenfußball-Turniere auf
Marktplätzen, Parkplätzen oder abgemusterten Militärflugplätzen statt
(www.strassenfussball.de). Verführt von einem kleinen Ball treffen sich
national-deutsche Jugendliche mit Russland-Aussiedlern, Lehrlinge mit
Arbeitslosen, Jungen mit Mädchen, Könner mit Versagern. Schon ist die
Fußball-Begeisterung auf die Schulen in Brandenburg übergesprungen, die
jetzt eine eigene Weltmeisterschaft ausspielen. Wer hätte gedacht, dass
sich in Brandenburg eine Schule findet, die unter den Farben von Kamerun
antreten möchte. Es ist die Herbert-Quandt-Schule in Pritzwalk. Fußball ist
Freiheit. Die Spieler sollen die Regeln selbst bestimmen. Bei vielen
Straßenturnieren gilt zum Beispiel, dass in jeder Halbzeit das erste Tor
einer Mannschaft von einem Mädchen geschossen werden muss. Das ist
unkonventionell, aber sozial hochintelligent: Aus der Claqueurs- und
Groupie-Rolle kommen die Mädchen in die Rolle der Mitspielerin. Und
einen Schiedsrichter brauchen die Straßenfußballer schon überhaupt
nicht. Tipps für neue Spielformen gibt es auch im Internet unter
(www.fussballD21.de). „Raus und spielen“ heißt das Motto. Brandenburg
ist nur der Anfang. Wir arbeiten daran, die Serie von Straßenfußball-
Turnieren auf ganz Deutschland auszudehnen. Wir arbeiten daran,
innerhalb der Städte wieder Platz zum Bolzen zu schaffen. Und für das Jahr
2006 bereiten wir parallel zum offiziellen Turnier eine Weltmeisterschaft der
Straßenfußballmannschaften in Deutschland vor. Der Fußball sollte sich
den öffentlichen Raum in ganz Deutschland zurückerobern. Jugendliche
sollen sich wieder an sichtbaren Plätzen vernetzen, statt im Internet zu
vereinsamen. Fußball muss von den Fesseln der Vereinsmeierei und des
Liga-Betriebs befreit werden. Auch die Talente, die nicht von bürgerlichen
Eltern mit dem Auto zum Vereinsheim gefahren werden, sollen wieder eine
Chance haben, ihre Fähigkeiten zu beweisen. Der Deutsche Fußballbund
muss aufwachen und erkennen, dass das wirkliche Potenzial des Fußballs
auf der Straße liegt. In vier Jahren wird Deutschland WM-Gastgeber sein.
Bis dahin müssen viele Dogmen des Vereinsfußballs gefallen sein. Wenn
der deutsche 80 Leistungsfußball eine Zukunft haben soll, muss zunächst
einmal der unorganisierte Fußball gestärkt werden. Frankreich hat das
längst erkannt. Der Weltmeistertrainer von 1998, Aimé Jacquet, ist in den
Jugendfußball zurückgekehrt und sucht im Straßenfußball neue Talente.
Nicht umsonst ist Frankreich bei der jetzigen WM wieder Favorit. Für den
großen Erfolg müssen wir im Kleinen umdenken. Keinem Jugendlichen ist
es zuzumuten, vor einem Straßen-Kick eine Genehmigung beim
Grünflächenamt einzuholen. Anwohner sollten ihr Auto nicht missmutig
um die Ecke parken, wenn die Nachbarskinder auf der Straße Fußball
spielen wollen. Das wäre ganz falsch. Sie sollten es gern tun. Es nützt
nämlich, genau genommen, der ganzen Nation. Antje Vollmer war viele
© 2015 Dr. Antje
Vollmer
Das Fußball-Manifest
Von Dr. Antje Vollmer und Jürgen
Klinsmann
Eine Vorbemerkung von Antje Vollmer:
Geht raus und spielt!